Differenzhypothese
Die Differenzhypothese
Schon vor Erlass des BGB hat man das zu kompensierende Vermögensinteresse definiert als „die Differenz zwischen dem Betrage des Vermögens einer Person, wie derselbe in einem gegebenen Zeitpunkte ist, und dem Betrage, welchen dieses Vermögen ohne die Dazwischenkunft eines bestimmten beschädigenden Ereignisses in dem zur Frage stehenden Zeitpunkt haben würde“ (Friedrich Mommsen, Zur Lehre von dem Interesse (1855), S. 3). Mit dieser auf einen Gesamtvermögensvergleich zielenden Differenzhypothese steht eine Formel zur Verfügung, die das Schadensrecht in ein problemloses und wertungsfreies Rechenexempel zu überführen scheint: Man verfolgt vom Zeitpunkt des zum Ersatz verpflichtenden Ereignisses an zwei Vermögensentwicklungen: eine reale und eine hypothetische. Richtet man T-Konten für beide Entwicklungen ein, so werden Vermögensabflüsse auf der Passivseite der Realentwicklung und verhinderte Vermögenszuflüsse auf der Aktivseite der hypothetischen Entwicklung verbucht. Die Buchungsvorgänge beeinflussen die im Zeitpunkt der Schadensberechnung zu ermittelnden Salden, deren Vergleich den zu ersetzenden Vermögensschaden bestimmt. Bei Aktivsalden in beiden Bilanzen ist dies die Differenz, die nach dem Abzug des Saldos der Realentwicklung vom Saldo der hypothetischen Entwicklung verbleibt. Nicht nur der realisierte Vermögensabfluss und der verhinderte Vermögenszufluss können verbucht werden und so Einfluss auf die Ermittlung des zu ersetzenden Vermögensschadens nehmen, auch die „klassischen“ Schadensrechtsprobleme der Vorteilsausgleichung und der überholenden oder hypothetischen Kausalität finden als Buchungsvorgänge leicht Eingang in den Prozess der Differenzermittlung. Aktueller Vermögenszufluss wird auf der Aktivseite der realen Entwicklung, verhinderter Vermögensabfluss auf der Passivseite der hypothetischen Vermögensentwicklung verbucht (Vorteilsausgleich). Umstände, die auch ohne das zum Ersatz verpflichtende Ereignis die nämlichen Nachteile zur Folge gehabt hätten, führen zur Buchung des realen Abflusses auf der Passivseite der hypothetischen Entwicklung und verhindern die Buchung des nicht realisierten Vermögenszuflusses auf der Aktivseite der hypothetischen Entwicklung.
Durchbrechungen der Differenzhypothese und Normativierung des Schadensbegriffs in der Rechtsprechung
Aufgabe der Kausalität als Zurechnungsfaktor
Eine Klasse der Durchbrechungen ist durch die Aufgabe der Kausalität als des allein maßgeblichen Zurechnungsfaktors gekennzeichnet. Hier entscheidet nicht die Conditio-sine-qua-non-Formel - das die Ersatzpflicht auslösende Ereignis kann nicht hinweggedacht werden, ohne dass die fragliche Vermögensentwicklung entfiele - über die Einstellung eines Postens in die zur Differenzberechnung erforderlichen Vermögensbilanzen, sondern "wertende Gesichtspunkte" beeinflussen die "Ermittlung" der realen wie der hypothetischen Vermögenslage. So berücksichtigt die Rechtsprechung in langer Tradition nur adäquat-kausale Schadensentwicklungen (RGZ 133, 127; BGHZ 3, 267). Zusätzlich zu den inadäquaten schließt sie solche Schäden aus der Ersatzpflicht aus, die außerhalb des Schutzbereichs der die Ersatzpflicht begründenden Norm liegen (BGHZ 27, 137). Nach durchaus heterogenen Bewertungskriterien entscheidet sie weiter darüber, welche der durch das zum Ersatz verpflichtende Ereignis verursachten Vorteile als differenz- und schadensmindernd in die Berechnungen einzubeziehen sind (versagter Vorteilsausgleich - BGHZ 54, 269; 62, 126) und verwehrt schließlich dem Ersatzpflichtigen, sich auf eine Reserveursache zu berufen, die den nämlichen Schaden bewirkt hätte und an sich bei der Feststellung der hypothetischen Vermögenslage zu Buche schlagen müsste (st. Rspr.: RGZ 141, 365).
Schadensersatz bei Immaterialgüterrechtsverletzungen
In allen zuvor bezeichneten Fallgruppen geht es um den Ausschluss von Bilanzierungsposten, deren Anfall beim Ersatzberechtigten und deren Vermögensqualität nicht in Frage stehen. Zwar wird die Differenzhypothese insoweit korrigiert, als nicht die Kausalität allein, sondern normative Kriterien verschiedener Art über die Berücksichtigung von (Vermögens-)Positionen bei der Bilanzerstellung entscheiden; noch unbeeinträchtigt bleiben jedoch die Merkmale, nach denen nur solche Positionen überhaupt in Rechnung gestellt werden, die beim Anspruchsberechtigten angefallen sind und Vermögensqualität haben. Die Rechtsprechung hat sich allerdings auch durch diese Merkmale nicht binden lassen. Schon das Reichsgericht (seit RGZ 35, 63 st. Rspr.) gestattete dem Inhaber von verletzten Patent- und Urheberrechten, beim Verletzer eine angemessene Lizenzgebühr (2. Schadensberechnungsart) oder gar den erwirtschafteten Gewinn (3. Schadensberechnungsart) zu liquidieren, ohne sich um den fehlenden Anfall dieser Positionen im Vermögen des Verletzten zu scheren (vgl. Wolfgang Däubler, Anspruch auf Lizenzgebühr und Herausgabe des Verletzergewinns - atypische Formen des Schadensersatzes, JuS 1969, 49).
Rechtsverfolgung und Normativierung
Die Literatur nahm es auf sich, diese Entwicklungen im Nachhinein zu legitimieren, indem sie eine über die Ausgleichsfunktion hinausweisende Rechtsverfolgungsfunktion des Schadensrechts entdeckte (repräsentativ Neuner AcP 133 (1931), 277 und Wilburg IherJb 82 (1932), 51). Sie mündete in einen gegliederten Schadensbegriff mit einem objektiven Schaden auf der einen und dem subjektiven Interesse auf der anderen Seite. Allein hinsichtlich des subjektiven Interesses sollte die Differenzhypothese gelten. Der objektive Schaden, der gemeine Wert des verletzten oder entzogenen Guts, sollte der Rechtsverfolgung wegen unabhängig von der Funktionsbestimmung des beeinträchtigten Guts im Vermögen des Anspruchsberechtigten und auch dann ersetzt werden, wenn die Differenzrechnung einen Schaden nicht ergab. Einen gemeinen Wert sprach man allen Gütern zu, die man auf dem Markt gegen Geld tauschen konnte, den eigentumsfähigen Sachgütern, aber auch der menschlichen Arbeitskraft und den Nutzungsmöglichkeiten sachlichen wie geistigen Eigentums. Man sprach in diesem Zusammenhang von einem Begriff mit "normativem Charakter" (Neuner AcP 133 (1931), 307) und gab damit der Rechtsprechung eine Zauberformel (normativer Schadensbegriff) an die Hand, die einerseits die bisherige Spruchpraxis bestätigte und andererseits eine Entwicklung auslöste, in deren Verlauf die ursprüngliche Grenzziehung zwischen materiellen und immateriellen Schäden sich bis zur Unkenntlichkeit verflüchtigte. Schließlich wird selbst die Freizeit zu einem Vermögensgut und ihre Aufwendung zu einem ersatzfähigen Vermögensschaden (so etwa OLG Frankfurt NJW 1976, 1320; anders hingegen die h.M. in Rspr. und Lit. - vgl. die Darstellung nebst umfangreichen Nachweise bei MünchKomm/Oetker, § 249 Rdnrn. 88 bis 93, der selbst der h.M. folgt).
Nutzungsentgang
Ein Beispiel für den Normativierung des Schadensbegriffs bietet die Rechtsprechung zur Entschädigung bei Nutzungsausfall. Eine solche Entschädigung wird unter bestimmten Voraussetzungen dafür gewährt, dass auf Grund eines schädigenden Ereignisses die Nutzung einer Sache für einen vorrübergehenden Zeitraum ausfällt. Dies ist unproblematisch, soweit es sich um die Entschädigung der für die Beschaffung eines Ersatzes aufgewendeten Kosten handelt, also beispielsweise um den Ersatz des Mietzinses, den der Eigentümer eines beschädigten Fahrzeuges für die Anmietung eines Ersatzfahrzeuges zahlt (§ 249 Abs. 1). Ebenfalls unproblematisch ist der Fall, dass dem Geschädigten auf Grund der ausgefallenen Nutzung ein Gewinn entgeht. Auch dieser entgangene Gewinn ist zu ersetzen (vgl. § 252).
Nicht ohne weiteres ist hingegen zu begründen, dass es sich bei dem reinen Nutzungsentgang an sich um einen Vermögensschaden handelt. Eine am Vermögensbestand ausgerichtete Differenzrechnung wird den zeitweiligen Verlust der Nutzung einer Sache nicht als Vermögensverlust ausweisen. Die Annehmlichkeiten der Nutzung eines bestimmten Gutes sind nach einer solchen Betrachtung als immaterielle Schäden anzusehen. Es bedarf daher des Rückgriffs auf normative Kriterien, um einen Vermögensschaden im Falle des Nutzungsausfalls zu begründen. Ob und anhand welcher Kriterien in diesen Fällen ein Vermögensschaden normativ zu begründen ist, wurde auch von der Rechtsprechung lange Zeit sehr uneinheitlich beantwortet. Nur für den Nutzungsausfall von Kraftfahrzeugen wurde eine Entschädigung im Grundsatz durchweg zugesprochen - wenn auch mit unterschiedlichen Voraussetzungen und in unterschiedlichem Umfang. Angesichts dieser uneinheitlichen Rechtsprechung legte der 5. Zivilsenat des BGH dem Großen Senat 1985 die Frage vor, ob der Nutzungsentgang einen ersatzfähigen Vermögensschaden darstellt (sehr lesenswert: Vorlagebeschluss vom 22.11.1985, NJW 1986, 2037). Der Große Senat beantwortete die ihm vorgelegte Frage differenzierend (Beschluss vom 9.7.1986, BGHZ 98, 212, ebenfalls abgedruckt in NJW 1987, 50). Aus diesem Beschluss ergibt sich in Zusammenschau mit der vorherigen und weiteren Entwicklung der Rechtsprechung, dass die entgangene Nutzung nicht nur bei Kraftfahrzeugen, sondern auch bei anderen Sachen unter bestimmten, engen Voraussetzungen als Vermögensschaden anzusehen ist. Danach setzt die Nutzungsentschädigung zunächst voraus, dass die Nutzung der in Frage stehenden Sache "kommerzialisiert" ist, m.a.W. auf dem Markt für Geld zu erwerben sein muss. Darüber hinaus verlangt die Rechtsprechung, dass es sich bei der in Frage stehenden Sache um ein "Wirtschaftsgut von allgemeiner und zentraler Bedeutung für die Lebenshaltung handelt", also um ein Gut, auf dessen "ständige Verfügbarkeit die eigenwirtschaftliche Lebenshaltung typischerweise angewiesen ist". Dies wird etwa im Grundsatz bei Kraftfahrzeugen und selbst bewohnten Häusern bejaht. Von derartigen Güter des täglichen Bedarfs sind diejenigen Güter abzugrenzen, die lediglich "Luxusbedürfnisse" befriedigen. Verneint wurde die Nutzungsentschädigung mit Verweis auf diese Voraussetzung schon vor dem Beschluss des Großen Senats etwa bei Beschädigung und Nutzungsausfall eines Pelzmantels (BGHZ 63, 393), eines Motorsportbootes (BGHZ 89,60) und eines Wohnwagens (BGHZ 86, 128); nach dem Beschluss wurde die Nutzungsentschädigung für den Ausfall einer Garage mit der Begründung verneint, dass man zur eigenwirtschaftlichen Lebenshaltung nicht auf die ständige Verfügbarkeit einer Garage angewiesen sei (BGH NJW 1993, 1793)(zu weiteren Beispielen, in denen die Rspr. einen Anspruch bejaht bzw. verneint hat vgl. die Zusammenstellung bei MünchKomm/Oetker, § 249, Rdnrn. 60, 61). Differenzierungsgesichtspunkt ist die Verkehrsanschauung. Diese wird indessen nicht mit den in der empirischen Sozialforschung zur Verfügung stehenden Methoden festgestellt, sondern eher intuitiv gewonnen, was dem Betrachter zwar einen Einblick in das gewährt, was Richter für normal und was für luxuriös halten, ihm aber bei der rationalen Lösung schadensrechtlicher Probleme wenig hilft. Dementsprechend ist der Rechtsprechung die Entwicklung einheitlicher praktikabler Abgrenzungskriterien bisher auch nicht gelungen. Folgerichtig stellt diese unsichere Abgrenzung einen wesentlichen Ansatzpunkt der Kritik im Schrifttum dar. Weiterhin muss nach der Rechtsprechung die Nutzungseinbuße für den Geschädigten "fühlbar" sein. Diese "Fühlbarkeit" setzt insbesondere voraus, dass der Geschädigte zum Gebrauch der Sache im fraglichen Zeitraum willens und fähig gewesen wäre. Die "Fühlbarkeit" entfällt etwa dann, wenn der Halter eines beschädigten Kraftfahrzeuges bei dem Unfall selbst verletzt wurde und während des zeitweiligen Nutzungsausfalls im Krankenhaus liegt. Anders jedoch wiederum dann, wenn im fraglichen Zeitraum enge Familienangehörige oder die Verlobte das Fahrzeug hätten nutzen können und wollen. Die "Fühlbarkeit" entfällt weiterhin, wenn dem Halter eines beschädigten Fahrzeuges ein Zweitwagen zur Nutzung zur Verfügung steht. Letztlich wird eine Nutzungsentschädigung auch nur in den Fällen objektsbezogener Eingriffe zugesprochen - also dann, wenn die Schädigung sich gerade gegen die Sache gerichtet hat, deren Nutzung ausgefallen ist. Keine Nutzungsentschädigung wird bei subjektsbezogenen Eingriffen gewährt, also in den Fällen, in denen der Nutzungsberechtigte selbst verletzt wurde und auf Grund seiner eigenen Verletzung an der Nutzung der in Frage stehenden (unbeschädigten) Sache gehindert ist (so schon vor dem Beschluss des Großen Senats: BGHZ 55, 146 - "Jagdpächter").
Urlaub
Vermögenswert spricht die Rechtsprechung auch dem Urlaub zu, wenn er "durch Arbeitsleistung verdient oder durch besondere Aufwendungen für eine Ersatzkraft ermöglicht wird" (BGH 63, 98 ff., 101 - "Rumänienreise"; vgl. Heinrich Honsell, Die mißlungene Urlaubsreise, JuS 1976, 222). Jedenfalls vertragliche Haftungen lösen Ersatzansprüche aus, wenn ein solcher Urlaub "vertan" wird. Dies gilt für die Tage der Hinreise, der vergeblichen Suche nach dem bestellten Bungalow oder einem entsprechenden Ersatz und der Rückreise eines missglückten Spanienurlaubs (OLG Frankfurt NJW 1962, 1372) ebenso wie für den durch schwer wiegende Mängel der Reiseleistungen in seinem Erholungswert beeinträchtigten Rumänienurlaub (BGH 63, 98), nicht indessen für den statt an der Adria an der Möhne verbrachten Urlaub (BGH 60, 214), es sei denn, eine schon bezahlte und nicht wieder rückgängig zu machende Pauschalreise stehe in Rede (BGH NJW 1956, 1234 - "Seereise"). Diese Rechtsprechung zur Ersatzfähigkeit "vertanen" Urlaubs differenzierte ursprünglich nicht zwischen vertraglicher und außervertraglicher Haftung. In BGHZ 86, 212 relativierte der BGH seine Rechtsprechung dann dahingehend, dass der Urlaub nur im Bereich vertraglicher Schadensersatzansprüche und dementsprechend nicht im Bereich deliktischer Schadensersatzansprüche ersatzfähig sei. Diese Beschränkung ergäbe sich zum einen daraus, dass nur bei Ersteren der Urlaub zum Vertragsgegenstand geworden und damit kommerzialisiert sei, und zum anderen daraus, dass die Ersatzfähigkeit im Bereich des Deliktsrechts zu einer unübersehbaren Ausuferung der Haftpflicht führen würde, die nur dort nicht zu erwarten sei, wo der vertane Urlaubsgenuss in unmittelbarem und erkennbaren Zusammenhang mit der versäumten Vertragspflicht stehe (zustimmend MünchKomm/Oetker, § 249 Rdnr. 90). Seit 1979 ist die Ersatzfähigkeit der "vertanen" Urlaubsfreude für den Reisevertrag in § 651 f II geregelt.