Regeln der gutachtlichen Fallentwicklung

Professor Dr. Dr. h.c. Helmut Rüßmann


Übersicht

Einleitung
Die Fallfrage
Die Anspruchsgrundlage[n]
Das Auffinden von Anspruchsnormen
Vertragliche Erfüllungsansprüche
Ansprüche auf Rückabwicklung ausgetauschter Leistungen
Ansprüche auf Herausgabe
Ansprüche auf Schadensersatz
Ansprüche auf Geld
Ansprüche auf Unterlassen
Die Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen
Die Einteilung der rechtlich relevanten Voraussetzungen
Die Beweislast
Regelverfeinerung
Prüfungsreihenfolge

Einleitung

Das Gutachten ist eine Darstellungsform für die Entwicklung einer Falllösung von der Ausgangsfrage zum Ergebnis. Die im Folgenden präsentierten Regeln sollen mit ihren Erläuterungen einerseits davor bewahren, Zeit, Gedanken und Energie auf überflüssige Erörterungen zu verschwenden, und andererseits dazu beitragen, alle erforderlichen Erörterungen aufzugreifen. Für die Erreichung des letzteren Ziels sind sie allerdings nur notwendige, nicht auch hinreichende Bedingungen.

Jede Antwort auf eine juristische Fallfrage gehorcht einem Grundschema, dem man grafisch die folgende Gestalt geben kann.

Grundgerüst einer Entscheidung

Die Fallfrage muss herausgearbeitet werden. Sie steuert die Auswahl der Rechtsnormen, die von der Rechtsfolge her eine Antwort auf die Fallfrage ermöglichen. Ob eine negative oder positive Antwort auf die Fallfrage gegeben werden kann, hängt alsdann von den Anwendungsvoraussetzungen der die Antwort abstrakt ermöglichenden Rechtsnormen und den Sachverhaltsinformationen ab. Anwendungsvoraussetzungen und Sachverhaltsinformationen müssen verglichen werden. Erfüllen die Sachverhaltsinformationen die Anwendungsvoraussetzungen, gibt es eine positive Antwort auf die Fallfrage. Erfüllen die Sachverhaltsinformationen die Anwendungsvoraussetzungen nicht, fällt die Antwort auf die Fallfrage negativ aus.


Die Fallfrage

Erste Aufgabe einer gutachtlichen Fallentwicklung ist die Herausarbeitung der Ausgangsfrage. Im Zivilrecht geht es dabei in der Regel um die Feststellung eines tatsächlichen Begehrens. Die Frage lautet dann: "Wer will was von wem?" Die Antwort darauf ist notwendiger Einleitungssatz einer jeden gutachtlichen Fallentwicklung. Sind alternative Antworten möglich, so ist für jede Alternative eine eigene gutachtliche Entwicklung erforderlich.

Die häufig - insbesondere in Repetitorien - anzutreffende Formulierung der Ausgangsfrage: Wer will was von wem woraus? vermischt zwei Ebenen miteinander und sollte deshalb gemieden werden. Die Ebenen betreffen das tatsächliche Begehren einerseits und den möglichen Rechtsgrund für das tatsächliche Begehren andererseits. Sie haben nichts miteinander zu tun, verlangen ganz unterschiedliche intellektuelle Anstrengungen (Herausarbeiten von Wünschen einerseits und von Rechtsgrundlagen andererseits) und werden auch im Prozessrecht strikt getrennt (vgl. § 253 ZPO, wo vom Antrag und vom Grund des Anspruchs die Rede ist). Den Parteien obliegt es, das Begehren zu formulieren. Ob das Begehren im Recht einen Rückhalt findet, hat das Gericht zu prüfen.

In Ausnahmefällen weichen Fragestellungen von der Anspruchsklausur ab. Dies ist etwa der Fall, wenn danach gefragt wird, wer Eigentümer einer bestimmten Sache ist. Hier entwickelt sich die Prüfung anders als bei einer Anspruchsklausur. Das Grundschema bleibt indessen erhalten! Bei der Frage nach dem Eigentum, die auch innerhalb einer Anspruchsklausur auftreten kann, setzt man bei einem Punkt des historischen Geschehens an, bei dem die Eigentumslage klar ist, und fragt alsdann nach möglichen Veränderungen dieser Eigentumslage im Zuge der weiteren zeitlichen Entwicklung.

Die Vorgaben zur Fallfrage können in einer Aufgabenstellung unterschiedlich präzise sein. Das Ziel ist die Formulierung eines tatsächlichen Begehrens, das den Anforderungen an einen Antrag im Zivilprozess entspricht. Diese Anforderungen richten sich danach, ob bei einer Verurteilung des Beklagten, des Anspruchgegners und Schuldners, nach dem gestellten Antrag die Vollstreckungsorgane wissen, welche Leistung sie beim Schuldner zwangsweise erwirken sollen. Da die Vollstreckungsorgane dazu nicht die Entscheidungsgründe heranzuziehen haben, muss die dem Antrag entsprechende Verurteilung alles Erforderliche enthalten. »Der Beklagte schuldet dem Kläger die Erfüllung des Kaufvertrages«, ist eine für das Vollstreckungsorgan untaugliche Verurteilung. Dementsprechend ist ein Antrag: »Der Beklagte wird verurteilt, den Kaufvertrag zu erfüllen«, ein untauglicher (und damit unzulässiger) Antrag und die Formulierung: »V verlangt von K Erfüllung des Kaufvertrages«, ein untauglicher Einleitungssatz für ein juristisches Gutachten. Zulässig und tauglich sind dagegen die Formulierungen: »Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 10.000,00 zu zahlen«, sowie (als Begehren und Einleitungssatz): »V verlangt von K Zahlung von 10.000,-.«

Welche Vorgaben kommen nun in einer Aufgabenstellung in Betracht?

Es gibt unterschiedliche Grade der Vorgabe in der Aufgabenstellung:

Das ist der einfachste Fall, den man allerdings nicht allzu häufig antrifft.

  • ein zwar nicht präzise formuliertes, aber durch Auslegung der Aufgabenstellung zu gewinnendes Begehren

Das ist ein sehr häufig anzutreffender Fall. Er verbirgt sich hinter vielen Fragen nach der Rechtslage. Die die Fallschilderung abschließende Frage nach der Rechtslage ist meist keine Aufforderung zur Erörterung aller möglichen Rechtsfragen. Vielmehr lässt sich aus den vorangehenden Sachverhaltsangaben ohne Not entnehmen, dass es den Beteiligten um ein ganz konkretes Begehren geht. Dann ist dieses Begehren und nur dieses Begehren Ausgangspunkt für die gutachtliche Fallentwicklung.

  • Entwicklung des Begehrens nach möglichen Wünschen (Anspruchszielen) eines Beteiligten

Wenn sich das Begehren nicht so ohne weiteres aus der Fallschilderung erschließt, besteht die Aufgabe darin, Phantasie zu entwickeln, nach möglichen Wünschen eines Beteiligten zu fragen und sie zum Ausgangspunkt der gutachtlichen Entwicklungen zu machen.

  • Entwicklung des Begehrens nach möglichen Wünschen (Anspruchszielen) mehrerer Beteiligter

Dies ist die schwierigste Situation. Die Schritte zu ihrer Bewältigung umfassen die Auflösung der vielfältigen Personenbeziehungen in Zweipersonenbeziehungen und die Überlegung, was in den jeweiligen Beziehungen bei der gegebenen Falllage unter Umständen verlangt werden kann.

Eine Prüfungsreihenfolge ist dabei nicht immer vorgegeben. Vielfach drängt sie aber dadurch auf, dass man Hauptschuldverhältnisse und Regressschuldverhältnisse voneinander unterscheiden kann. Da taucht dann die Frage nach einem Regress des Hauptverpflichteten gegen einen Dritten erst dann auf, wenn die Hauptverpflichtung festgestellt worden ist. Also entwickelt man zunächst ein Gutachten zu einem Begehren, das die Hauptverpflichtung betrifft, um sich anschließend - bei positiver Bescheidung des Hauptbegehrens - den Regressfragen in einem weiteren Gutachten zuzuwenden.


Die Anspruchsgrundlage[n]

Auf die Feststellung des tatsächlichen Begehrens folgt die hypothetische Einführung einer dem tatsächlichen Begehren korrespondierenden Rechtsnorm (Anspruchsgrundlage). Das kann ein vertragliches Versprechen oder eine (andere) Rechtsnorm sein. Stellt man sich Normen in einer Wenn-dann-Verknüpfung von Tatbestand (=Anspruchsvoraussetzungen) und Rechtsfolge vor, so sind nur jene Normen geeignete Anspruchsnormen, deren Rechtsfolge dem tatsächlichen Begehren entspricht. Das gilt auch für vertragliche Versprechen. Weitere Beschränkungen enthalten die Regeln der gutachtlichen Fallentwicklungen nicht. Insbesondere hindern sie nicht die Einführung auch nicht dem positiven Gesetzesrecht zugehöriger Normen. Inwieweit diese geltendes (=begründbares) Recht sind, ist eine Frage der Rechtsquellen-, Methoden- und/oder Begründungslehre und im Gutachten zu beantworten.

Das Auffinden von Anspruchsnormen

Mit dem Auffinden von Anspruchsnormen ist zum ersten Mal juristisches Wissen und Orientierungsvermögen gefordert. Die Zahl möglicher Anspruchsgrundlagen ist zwar nicht unabzählbar, aber doch so hoch, dass man sie nicht alle für jedes Begehren von A bis Z durchgehen kann. Hier können Überlegungen zur Qualifikation der Fallfrage hilfreich sein. Geht es um die Erfüllung eines vertraglichen Versprechens, um die Rückgängigmachung ausgetauschter Leistungen, um Herausgabe einer Sache, um Schadensersatz, um ein Unterlassungsgebot, um Unterhaltsverlangen, so schränken die so getroffenen Qualifikationen, die sich durchaus überschneiden können, den Bereich möglicher Anspruchsgrundlagen jedenfalls für den signifikant ein, der über System- und Regelkenntnis im betroffenen Rechtsbereich verfügt.

Vertragliche Erfüllungsansprüche

Bei vertraglichen Erfüllungsansprüchen ist die Grundlage für die Rechtsfolge das vertragliche Versprechen als solches. Enthält es die begehrte Rechtsfolge, kommt es nur noch darauf an, ob die Voraussetzungen für ein rechtlich bindendes und wirksames Versprechen gegeben sind. Da diese Voraussetzungen häufig unabhängig von der Vertragstypeneinordnung sind, spielt diese Einordnung für die Erfüllungsansprüche selten eine rechtlich relevante Rolle. Es schadet zwar nicht, § 433 Abs. 2 BGB als Anspruchsgrundlage für einen Kaufpreisanspruch oder § 631 Abs. 1 BGB als Anspruchsgrundlage für einen Werklohnanspruch zu benennen; bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass die Leistungsverpflichtungen einem Versprechen entspringen, das den §§ 433 Abs. 2, 631 Abs. 1 BGB voraus liegt. Es handelt sich um einen Kaufvertrag bzw. um einen Werkvertrag, wenn die in den jeweiligen Normen angesprochenen Verpflichtungserklärungen vorliegen. Die Normen sind Definitionsnormen und als solche nur von Bedeutung, soweit in dem Abschnitt nach den Definitionen besondere Wirksamkeitsvoraussetzungen für die primären Leistungsversprechen normiert sind. Ist das nicht der Fall, so kommt es für den Anspruch aus dem primären Leistungsversprechen auf die Vertragstypeneinordnung nicht an. Wer dennoch § 433 Abs. 2 BGB als Anspruchsgrundlage anführt und sich für einen Zahlungsanspruch eingehend zur Vertragstypenbestimmung auslässt, zeigt, dass er die geschilderten Zusammenhänge nicht erfasst hat.

Ansprüche auf Rückabwicklung ausgetauschter Leistungen

Wenn ausgetauschte Leistungen rückabgewickelt werden sollen, kommen vor allem drei Regelungskomplexe in Betracht, die geeignete Anspruchsgrundlagen zur Verfügung stellen: das Rücktrittsrecht, das Bereicherungsrecht und das Schadensersatzrecht.

Die einschlägige Anspruchsnorm des Rücktrittsrechts ist § 346 BGB.

Die einschlägige Anspruchsnorm aus dem Bereicherungsrecht ist § 812 Abs. 1 S. 1 Fall 1 BGB. Sie greift, wenn es eine Rechtsgrundlage für die Leistungserbringung nicht (mehr) gibt. Da beim Rücktritt die Rechtsgrundlage nicht zerstört wird, schließen der Anspruch aus dem Rücktrittsrecht und der Bereicherungsanspruch sich gegenseitig aus.

Einschlägige Anspruchsnormen für die schadensrechtliche Verpflichtung zur Rückgewähr ausgetauschter Leistungen können alle Normen sein, die als Rechtsfolge die Verpflichtung zum Schadensersatz anordnen. Für diese Verpflichtung bestimmt § 249 Abs. 1 BGB als eine Form des Schadensersatzes die Herstellung des Zustandes, der bestehen würde, wenn das zum Schadensersatz verpflichtende Ereignis nicht eingetreten wäre. Und dieser Zustand kann an dem Zustand vor dem Leistungsaustausch gemessen werden.

Ansprüche auf Herausgabe

Ansprüche auf Herausgabe können aus vielen Rechtsgründen resultieren:

· Leistungsversprechen

Beim Leistungsversprechen ist das Versprechen die eigentliche Rechtsgrundlage. Es gilt das allgemein zu den Leistungsversprechen Ausgeführte.

· Eigentum

Der auf Eigentum gestützte Herausgabeanspruch ist die rei vindicatio des § 985 BGB.

· Besitz

Die Herausgabeansprüche aus Besitz finden wir in §§ 861, 869, 1007 BGB.

· Auftrag und Geschäftsführung ohne Auftrag

Die einschlägige Anspruchsnorm zur Herausgabepflicht des Beauftragten ist § 667 BGB, auf den § 681 S. 2 BGB für die auftragslose Geschäftsführung verweist.

· Verpflichtungen zur Leistung von Schadensersatz

Die Herausgabepflicht dessen, der zur Leistung von Schadensersatz (nach welcher Norm auch immer) verpflichtet ist, folgt aus dem Grundsatz der Naturalrestitution in § 249 Abs. 1 BGB.

· ungerechtfertigter Bereicherung.

Die Herausgabeanordnungen des Bereicherungsrechts kann man den § 812, 816 und 818 Abs. 1 BGB entnehmen.

Ansprüche auf Schadensersatz

Die Rechtsfolgen eines Schadensersatzanspruchs sind die Verpflichtung zur Herstellung (§ 249 Abs. 1 BGB), die Verpflichtung zur Tragung der Herstellungskosten (§ 249 Abs. 2 BGB) oder die Verpflichtung zum Geldausgleich eines Vermögensschadens (§§ 251, 252 BGB).

Schadensersatzansprüche findet man in den unterschiedlichsten Rechtsbereichen über das gesamte BGB verteilt und außerhalb des BGB.

Eine mögliche Einteilung ist die nach dem Entstehen des Anspruchs in einer Sonderverbindung oder außerhalb einer Sonderverbindung, im allgemeinen sozialen Kontakt sozusagen.

In Sonderverbindungen stehen etwa Familienangehörige, Nachbarn und vor allem (potentielle wie reale) Vertragspartner. Die Sonderverbindungen sind namentlich für die Zurechnung des Verhaltens von Gehilfen interessant. Hier greift nämlich § 278 BGB ohne Exkulpationsmöglichkeit, während bei den deliktsrechtlichen Ansprüchen aus zufälligen Begegnungen im allgemeinen sozialen Kontakt eine Haftung für Gehilfen nur unter dem Voraussetzungen des § 831 BGB (vermutetes, aber eben widerlegbares Verschulden des Geschäftsherrn) in Betracht kommt.

Bei den außerhalb des BGB geregelten Schadensersatzansprüchen handelt es sich vor allem um Ansprüche aus Gefährdungshaftung. Hier stellt sich das Gehilfenproblem nicht in der Schärfe wie beim Deliktsrecht des BGB, weil die Haftung an das Halten und Unterhalten der Gefahrenquelle anknüpft und nicht an das Handeln des beim Unfallgeschehen unmittelbar beteiligten Menschen. Der Halter eines Kraftfahrzeugs haftet für die beim Betrieb des Kraftfahrzeugs angerichteten Schäden auch, wenn nicht er, sondern ein anderer das Fahrzeug gesteuert hat (§ 7 Abs. 1 StVG).

Ansprüche auf Geld

Geldansprüche kann es als Erfüllungsansprüche, Aufwendungsersatzansprüche, Herausgabeansprüche, Bereicherungsansprüche und Schadensersatzansprüche geben.

Ansprüche auf Unterlassen

Ansprüche auf Unterlassen eines Tuns gibt es als Erfüllungsansprüche (vertraglich vereinbarte Wettbewerbsverbote), als Abwehransprüche gegenüber Eigentumsstörungen aus § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB unmittelbar sowie gegenüber Störungen anderer absolut geschützter Rechtsgüter aus § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog (quasinegatorische Ansprüche).

Für die Praxis von besonderer Bedeutung sind die wettbewerbsrechtlichen Unterlassungsansprüche im so genannten Lauterkeitsrecht. Die einschlägige Anspruchsgrundlage findet sich insoweit in § 8 UWG.

Auch in nachbarrechtlichen Auseinandersetzungen stehen häufig Unterlassungsansprüche im Vordergrund.


Die Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen

Im dritten Schritt ist das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale der hypothetisch eingeführten (und gegebenenfalls als geltend begründeten) Anspruchsnorm zu untersuchen. Dabei geht es um die Frage, ob der Sachverhalt die Merkmale aufweist, welche durch die Bedeutungsregeln ausgezeichnet werden, die den Gehalt des Tatbestands der Anspruchsnorm ausmachen. Die Bedeutungsregeln können durch andere Normen wenigstens teilweise festgelegt sein (so z.B. das Eigentum in § 823 Abs. 1 BGB durch die Vorschriften des Sachenrechts). Dann müssen die entsprechenden Normen eingeführt und untersucht werden. Die Bedeutungsregeln können auch Entscheidungsspielräume lassen. Diese sind unter Erörterung der verschiedenen Ausfüllungsmöglichkeiten durch Festsetzung auszufüllen. Wir - oder besser Sie - stehen vor einem Problem der juristischen Methoden- und Begründungslehre.

Die Untersuchung der Tatbestandsmerkmale der hypothetisch eingeführten Anspruchsnorm kann zu zwei Ergebnissen führen. Entweder wird der Tatbestand verneint. Dann steht fest, dass das Begehren durch die untersuchte Norm jedenfalls nicht begründet werden kann. Man hat dann eine andere (dem tatsächlichen Begehren korrespondierende) Anspruchsnorm ein- und die Untersuchungen zu deren Tatbestand durchzuführen. Oder aber der Tatbestand wird bejaht. Dann stellt sich die Frage nach möglichen Einwänden (Gegenrechten), die den Anspruch trotz Vorliegen des Tatbestands der Anspruchsnorm zu Fall bringen können.

Die mögliche Einwände begründenden Gegenrechtsnormen sind ebenso hypothetisch einzuführen wie die dem Begehren korrespondierenden Anspruchsnormen. Es muss sich um Normen handeln, die von ihrer Rechtsfolgenseite her überhaupt geeignet sind, den bis dahin begründeten Anspruch zu Fall zu bringen. Nur im Hinblick auf sie gebietet die Denkökonomie eine Untersuchung der Tatbestandsmerkmale. Werden die Voraussetzungen der Gegenrechtsnorm bejaht, sind, wenn nicht eine Gegengegenrechtsnorm eingreift, die Erörterungen zur geprüften Anspruchsgrundlage abzuschließen, und eine neue Anspruchsgrundlage ist gegebenenfalls einzuführen. Werden die Voraussetzungen aller potentiellen Gegenrechtsnormen verneint, so ist das Begehren nach der untersuchten Anspruchsgrundlage begründet, die gutachtliche Fallentwicklung aber dennoch nicht abgeschlossen. Die Leser (etwa die Richter eines Kollegialorgans) könnten in einem Punkte anderer Auffassung sein. Für diesen Fall sind auch andere Anspruchsnormen daraufhin zu untersuchen, ob sie das Begehren zu begründen vermögen. Vergleichbares gilt für die Prüfung mehrerer in Betracht kommender Gegenrechtsnormen.

Die Einteilung der rechtlich relevanten Voraussetzungen

Im Vorangegangenem war die Rede von Anspruchsnormen und Gegenrechten. Diese Unterscheidung gilt es zu erläutern, näher zu beleuchten und weiter zu verfeinern. Sie ist für die gutachtliche Fallentwicklung von nicht zu unterschätzender Bedeutung.

Rechtlich bedeutsam (relevant) ist jeder Sachverhaltsumstand, dessen Vorliegen oder Nichtvorliegen Einfluss auf das Ergebnis eines Gutachtens, auf die Beantwortung der Fallfrage haben kann. Nicht jeder rechtlich bedeutsame Umstand wird indessen in der Fallschilderung, die die Aufgabenstellung enthält, erwähnt. Wir finden häufig keine Angaben über das Alter der Vertragspartner, über die Frage der Erfüllung eines Anspruchs, obwohl doch das Alter, wie die Regeln über die Geschäftsfähigkeit zeigen, rechtlich bedeutsam für das Entstehen einer vertraglichen Verpflichtung sein kann und obwohl mit der Erfüllung eines Anspruchs der Anspruch erlischt (§ 362 Abs. 1 BGB) und dann eben nicht mehr (nicht noch einmal) durchgesetzt werden kann. Wie sollen wir in einem Gutachten in Kenntnis der rechtlichen Relevanz eines Umstands mit der Informationslosigkeit über diesen Umstand umgehen?

Ein schwerer Fehler wäre es, den Sachverhalt nach seiner Phantasie zu ergänzen.

Häufig empfohlen, aber nicht minder fehlerhaft ist die Auffüllung des nun einmal schweigenden Sachverhalts mit dem, was normal oder wahrscheinlich zu sein scheint. Wir benötigen diese Krücke nicht, weil das Recht eine viel elegantere Lösung für die Fälle der Informationslosigkeit bereithält. Die Lösung verbirgt sich hinter der Einteilung der rechtlich relevanten Voraussetzungen in Voraussetzungen für das Eingreifen des Anspruchs, die anspruchsbegründenden Voraussetzungen, und in Voraussetzungen für das Eingreifen von Gegenrechten, die gegenrechtsbegründenden Voraussetzungen.

Eine positive Antwort auf das Bestehen eines Anspruchs setzt mindestens das Gegebensein der anspruchsbegründenden Voraussetzungen voraus. Enthält der Sachverhalt hierzu keine Informationen oder eine Informationslücke, dann bleibt nur die Feststellung des Nichtbestehens des Anspruchs. Sobald indessen die anspruchsbegründenden Voraussetzungen festgestellt sind, ist vom Bestehen des Anspruchs auszugehen, wenn es nicht Informationen zu gegenrechtsbegründenden Voraussetzungen im Sachverhalt gibt. Das Schweigen zu gegenrechtsbegründenden Voraussetzungen verschiebt die Entscheidung der Fallfrage nicht auf den Sanktnimmerleinstag, sondern verlangt das Zusprechen des Anspruchs, wie das Schweigen des Sachverhalts zu anspruchsbegründenden Voraussetzungen das Verneinen des Anspruchs verlangt.

Die Beweislast

Das Rechtsinstitut, dem wir diese Entscheidungsmöglichkeiten bei Informationslosigkeit über rechtlich relevante tatsächliche Voraussetzungen verdanken, ist die Beweislast. Sie heißt uns, etwas als nicht gegeben zu unterstellen, worüber wir keine Informationen haben. Sie wirkt sich zulasten dessen aus, auf den die Verteilungsregel die Beweislast fallen lässt. Das Ergebnis der Beweislastverteilung ist die Einteilung der rechtlich relevanten Voraussetzungen in anspruchsbegründende (anspruchserhaltende) und gegenrechtsbegründende (gegenrechtserhaltende) Voraussetzungen. Die Klammerzusätze deuten auf weitere Differenzierungen hin, die später eingeführt werden.

Machen wir uns das bisher Gesagte an einigen Beispielen klar.

Beispiel 1:

Der Sachverhalt enthält Informationen, die einen Kaufpreisanspruch des Anspruchstellers stützen. Über Zahlungen des Anspruchsgegners auf den Kaufpreisanspruch schweigt er.

Hier bekommt der Anspruchsteller den Anspruch zugesprochen. Die Erfüllung begründet ein Gegenrecht. Schweigt der Sachverhalt zu Erfüllungsvorgängen, so ist von der Nichterfüllung auszugehen.

Aus diesem Beispiel könnte man sich leicht zur Annahme einer Zeitregel verleiten lassen: Umstände, die zeitlich im Zusammenhang mit der Entstehung des Anspruchs stehen, fallen in die Beweislast des Anspruchstellers; Umstände die einen einmal entstandenen Anspruch später vernichten können, fallen in die Beweislast des Anspruchsgegners.

Diese Regel ist falsch. Das zeigt

Beispiel 2:

Der Sachverhalt enthält Informationen, die einen Kaufpreisanspruch des Anspruchstellers stützen. Über das Alter der Vertragspartner schweigt er.

Auch hier bekommt der Anspruchsteller den Anspruch zugesprochen, obwohl bei Minderjährigkeit eines der Vertragspartner der Vertrag nicht wirksam und der Anspruch nicht gegeben wäre und das Alter bei der Entstehung des Anspruchs eine Rolle spielt.

Auch die bei der Entstehung des Anspruchs rechtlich relevanten Voraussetzungen werden demnach offensichtlich in anspruchsbegründende und gegenrechtsbegründende Voraussetzungen aufgeteilt. Die zeitliche Abfolge allein trägt die Differenzierung nicht.

Wonach richtet sich aber dann die Beweislastverteilung?

Eine ungenaue Regel sagt, dass jeder die tatsächlichen Umstände der für ihn günstigen Voraussetzungen zu beweisen habe. Günstig ist für den Anspruchsteller die Nichterfüllung, für den Anspruchsgegner die Erfüllung; für den Anspruchsteller die Volljährigkeit der Vertragpartner, für den Anspruchsgegner die Minderjährigkeit wenigstens eines der Vertragspartner. Danach müsste jeder alles beweisen. So formuliert ist die Regel deshalb untauglich.

Schon besser wird es mit einer anderen Regel. Danach muss jeder die tatsächlichen Umstände der Voraussetzungen der Normen beweisen, die er auf den Fall angewendet wissen möchte. Diese Regel funktioniert im Minderjährigenfall ebenso wie im Erfüllungsfall. Der Anspruchsgegner möchte § 362 BGB bzw. §§ 104 ff. BGB angewendet wissen. Also soll er die Nachteile daraus tragen, dass über diese Voraussetzungen der Sachverhalt schweigt.

Auch diese Regel trägt nicht in allen Fällen. Sie muss versagen, wenn die Voraussetzungen innerhalb ein- und desselben Satzes einer Norm in anspruchsbegründende und gegenrechtsbegründende einzuteilen sind. Und diese Fälle gibt es, wie das folgende Beispiel zum BGB vor der Schuldrechtsmodernisierung am 1.1.2002 zeigt:

Beispiel 3:

Der Sachverhalt enthält Informationen über die Begründung einer Leistungsverpflichtung und über den Untergang des Leistungsgegenstandes. Über die Umstände, unter denen der Leistungsgegenstand untergegangen ist, schweigt er. Der Gläubiger der ursprünglichen Leistungsschuld verlangt Schadensersatz wegen Nichterfüllung.

Der Schadensersatzanspruch war aus § 280 Abs. 1 BGB a.F. begründet, obwohl in dieser Norm das Vertretenmüssen als rechtlich relevanter Umstand erwähnt war. § 282 BGB a.F. legte die Beweislast dem Schuldner der unmöglich gewordenen Leistung auf. Dies bedeutete, dass nicht das Vertretenmüssen des Schuldners eine anspruchsbegründende Voraussetzung für den Schadensersatzanspruch des Gläubigers war, sondern das Nichtvertretenmüssen des Schuldners ein Gegenrecht begründete, das die Entstehung des Schadensersatzanspruchs verhinderte.

Nach dem neuen Recht sind die Verhältnisse nicht mehr so kompliziert. § 280 Abs. 1 BGB ist in zwei Sätze aufgeteilt. Satz 1 enthält die anspruchsbegründenden Voraussetzungen für den Schadensersatzanspruch aus Vertragspflichtverletzung, Satz 2 mit dem Nichtvertretenmüssen die gegenrechtsbegründende Voraussetzung.

Doch gibt es auch jetzt noch Normen, in denen rechtlich relevante Voraussetzungen eines Satzes in der Beweislast unterschiedlich verteilt sind. Ein Beispiel ist § 111 Satz 2 BGB. Die Vorlage der schriftlichen Einwilligung muss derjenige beweisen, der auf die Wirksamkeit des einseitigen Rechtsgeschäfts setzt, die Zurückweisung derjenige, der auf die Unwirksamkeit des einseitigen Rechtsgeschäfts trotz Bestehen einer Einwilligung baut.

Wenn keine der Regeln in allen Fällen greift, so kann man doch einen für die praktische Entscheidung hilfreichen Regelsatz für die Beweislastverteilung formulieren:

  1. Über die Beweislastverteilung entscheidet der Gesetzgeber. Das geschieht zum Teil ausdrücklich (wie in §§ 363, 345, 476, 619a BGB), zum Teil durch die systematische Anordnung der rechtlich relevanten Voraussetzungen (wie in §§ 280 Abs. 1 und 831 Abs. 1 BGB durch die Trennung von Satz 1 und Satz 2).
  2. Die zeitliche Aufeinanderfolge kann eine Faustregel für die Beweislastverteilung ergeben.
  3. Im Grundsatz hat ein jeder die Voraussetzungen der Normen zu beweisen, die er angewendet wissen möchte.

Regelverfeinerung

Wenn wir das bisher gewonnene Bild verfeinern wollen, können wir die rechtlich für das Zusprechen oder Absprechen eines Anspruchs relevanten Voraussetzungen einteilen in

  • anspruchsbegründende Voraussetzungen
  • anspruchshindernde Voraussetzungen
  • anspruchsvernichtende Voraussetzungen
  • anpruchshemmende Voraussetzungen
  • anspruchserhaltende Voraussetzungen

Anspruchsbegründende Voraussetzungen lassen einen Anspruch entstehen. Anspruchshindernde Voraussetzungen verhindern das Entstehen eines Anspruchs. Anspruchsvernichtende Voraussetzungen vernichten einen einmal entstandenen Anspruch. Anspruchshemmende Voraussetzungen nehmen einem einmal entstandenen Anspruch die Durchsetzbarkeit, ohne ihn zu vernichten. Und anspruchserhaltende Voraussetzungen nehmen den rechtsvernichtenden oder rechtshemmenden Voraussetzungen den zerstörerischen Einfluss auf den entstandenen Anspruch.

Materiellrechtlich begründen die anspruchshindernden und die anspruchsvernichtenden Voraussetzungen Einwendungen, die anspruchshemmenden Voraussetzungen Einreden.

LOGISCH betrachtet kommen wir zur Gleichwertigkeit aller positiven und negativen Bedingungen für das Zusprechen/Absprechen des geltend gemachten Anspruchs im Zeitpunkt der Entscheidung.

ZEITLICH betrachtet unterscheiden wir Bedingungen für das Entstehen des Anspruchs (anspruchsbegründende Voraussetzungen und anspruchshindernde Voraussetzungen) und Bedingungen für das Vernichten oder Hemmen eines entstandenen Anspruchs (anpruchshemmende Voraussetzungen und anspruchsvernichtende Voraussetzungen) und daran anschließend Bedingungen für das Außerkraftsetzen von Anspruchshemmung oder -vernichtung (anspruchserhaltende Voraussetzungen).

Von der BEWEISLAST betrachtet unterscheiden wir Bedingungen, die vom Anspruchsteller zu beweisen sind, von Bedingungen, die vom Anspruchsgegner zu beweisen sind. Vom Anspruchsteller zu beweisen sind die anspruchsbegründenden Voraussetzungen und die anspruchserhaltenden Voraussetzungen. Der Anspruchsgegner hat hingegen zu beweisen die anspruchshindernden Voraussetzungen, die anpruchshemmenden Voraussetzungen und die anspruchsvernichtenden Voraussetzungen.

Prüfungsreihenfolge

Eine für die praktische Bewältigung von Aufgaben wichtige Frage ist häufig die nach der Prüfungsreihenfolge der rechtlich relevanten Voraussetzungen.

LOGISCH betrachtet gibt es da keine Festlegung, denn logisch sind alle Voraussetzungen gleichwertig.

ZEITLICH betrachtet wendet man sich zunächst der Anspruchsentstehung und -hinderung zu, um hernach Fragen der Anspruchsvernichtung oder -hemmung zu erörtern.

Die alles beherrschende BEWEISLAST legt die folgende Reihenfolge nahe, die sich teilweise mit dem zeitlichen Standpunkt deckt:

  • Anspruchsbegründung
  • Anspruchshinderung, Anspruchsvernichtung, Anspruchshemmung
  • Anspruchserhaltung

Kilroy

Die Prüfungsschritte und das Prüfungsergebnis (Entscheidung) lassen sich grafisch wie folgt verdeutlichen. Geprüft werden Rechtsnormen. Die vom Anspruchsteller zu beweisenden Voraussetzungen sind blau unterlegt, die vom Anspruchsgegner zu beweisenden grün. Die Entscheidung bezieht sich auf den geltend gemachten Anspruch.

Prüfungsablauf

  • Für das Eingreifen anspruchsbegründender Normen ist der Sachverhalt nach anspruchsbegründenden Tatsachen zu durchforsten. Fehlt auch nur eine der anspruchsbegründenden Tatsachen, so trägt den Nachteil der Anspruchsteller. Der von ihm erhobene Anspruch besteht nicht.
  • Für das Eingreifen von Gegenrechtsnormen kommt es auf das Vorliegen anspruchshindernder, anspruchsvernichtender oder anspruchshemmender Tatsachen an. Sie fallen in die Beweislast des Anspruchsgegners. Der Anspruchsgegner trägt mithin die Nachteile aus dem Fehlen solcher Tatsachen.
  • Die Gegengegenrechtsnormen sind vom Vorliegen anspruchserhaltender Tatsachen im Sachverhalt abhängig. Den Nachteil aus dem Fehlen entsprechender Tatsachen trägt der Anspruchsteller.

Kilroy

Nicht zu unterschätzen sind Gesichtspunkte der LÖSUNGSDARSTELLUNG .

  • Welches Gewicht hat eine Frage im Rahmen der Aufgabenstellung?
  • Wie steht es um Abnahmebereitschaft des Lesers für die vorgeschlagene Lösung?

Diese Gesichtspunkte sind nur schwer in Regeln zu greifen. Sie sind von Überlegungen über die Absichten des Aufgabenstellers abhängig und führen zur dramatischen Methode: Die Spannung des Lesers muss von Seite zu Seite, von Satz zu Satz gesteigert werden, bis im letzten Satz aller Rätsel Lösung präsentiert wird, die dem Korrektor bei jedem Notenvorschlag unter 15 Punkten die Schamröte ins Gesicht treibt.


Modifié le: samedi 1 septembre 2007, 16:20