Sittenwidrigkeit, § 138 BGB
Sittenwidrigkeit (§ 138 BGB)
§ 138 Abs. 1 BGB lautet: "Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, ist nichtig". Abs. 2 regelt einen Sonderfall des sittenwidrigen Geschäfts, den Wucher.
§ 138 BGB soll verhindern, dass sich die Rechtsordnung in den Dienst des Unsittlichen stellt. Unsittliches und allgemein missbilligtes Verhalten soll also nicht mit den Mitteln des Rechts erzwingbar sein. Dabei ist zu beachten, dass § 138 BGB keinesfalls die Maßstäbe einer Hochethik übernimmt, sondern nur die grundlegenden, allgemein anerkannten Wertvorstellungen unserer Gesellschaft in die Rechtsordnung integriert.
Vergleicht man den schon dargestellten § 134 BGB mit § 138 BGB, so sieht man, dass die beiden Normen in ihrer Zielsetzung sehr ähnlich sind. Beide Vorschriften sollen verhindern, dass sich das Recht in den Dienst missbilligten rechtsgeschäftlichen Verhaltens stellt. Unterschiedlich ist jedoch der Grund der Missbilligung. § 134 BGB verweist auf die Missbilligung durch die Rechtsordnung, § 138 BGB hingegen auf die Missbilligung durch eine (scheinbar) außerrechtliche Ordnung, die Sittenordnung. Diese beiden Ordnungen - Rechtsordnung und Sittenordnung - stimmen oft, aber nicht immer überein. So ist beispielsweise der Mord rechtswidrig und gleichzeitig sittenwidrig. Falschparken hingegen ist zwar rechtswidrig, aber nicht sittenwidrig. Knebelungsverträge andererseits sind zwar sittenwidrig, verstoßen aber gegen kein gesetzliches Verbot.
Verstoß gegen die "guten Sitten" (§ 138 Abs. 1 BGB)
Begriff der "guten Sitten"
Hinsichtlich der Voraussetzungen der Generalklausel des § 138 Abs. 1 BGB ist der Begriff der "guten Sitten" von zentraler Bedeutung.
Die Bestimmung dieses Begriffs erweist sich aus mehreren Gründen als überaus schwierig. Zum einen wird sie dadurch erschwert, dass wir in einer pluralistischen Gesellschaft leben, in der die Wertvorstellungen der einzelnen Gesellschaftsgruppen stark differieren. Es stellt sich damit die Frage, welche der Wertvorstellungen der verschiedenen Gesellschaftsgruppen dem Urteil des Richters zugrunde zu legen ist. Zum anderen ist zu bedenken, dass die Wertvorstellungen im Laufe der Zeit einem dauerndem Wandel unterliegen. So wurden beispielsweise pornographische Darstellungen Mitte des Jahrhunderts noch von überwiegenden Teilen der Bevölkerung als hochgradig anstößig empfunden, während die meisten Menschen der heutigen Gesellschaft sie vielleicht als nicht dem eigenen Geschmack gemäß, aber eben nicht unbedingt als sittlich verwerflich empfinden.
Angesichts dieser Schwierigkeiten kann wohl nicht mehr überraschen, dass der Begriff der "guten Sitten" in Rechtsprechung und Literatur sehr unterschiedlich bestimmt wird.
Die Rechtsprechung bestimmt den Begriff der "guten Sitten" nach dem "Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden".
Um das "Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden" zu ermitteln, stellt sie vorrangig auf die Anschauungen des betroffenen Rechtskreises ab. Auf den allgemeinen Standard kommt es dabei nur dann an, wenn eine Maxime für den gesamten Rechtsverkehr gelten soll, während bei sittlichen Sätzen mit beschränktem Geltungsanspruch die Anschauungen des betroffenen Verkehrskreises entscheidend sind. Es geht dabei allerdings nie um die bloße Feststellung der Anschauungen, sondern auch um deren Bewertung.
Beispiele: Handelt es sich in einem konkreten Fall um eine Frage, die nur Kaufleute betrifft, so wird vorrangig die Auffassung der am kaufmännischen Verkehr Beteiligten betrachtet. Andere Fragen, wie etwa die nach der Sittenwidrigkeit von "Peep-Shows", betreffen die gesamte Gesellschaft. Damit sind insoweit die allgemeinen Anschauungen entscheidend.
Die Begriffsbestimmung der Rechtsprechung wird vielfach kritisiert. Insbesondere wird ihr vorgeworfen, sie sei "leerformelartig". Dieser Kritik ist zuzugeben, dass der Verweis auf "Anstandsgefühl" inhaltlich nicht wesentlich konkreter ist als der zu definierende Begriff der "guten Sitten" selbst, und die Formel ihrerseits weiterer Konkretisierung bedarf. Auch die Bezugnahme auf die "billig und gerecht Denkenden" wird kritisiert, da nicht ohne Weiteres ersichtlich ist, wer denn diese "billig und gerecht Denkenden" sind.
Dennoch empfiehlt es sich (zumindest in der Klausur), die Formel der Rechtsprechung als Ausgangspunkt weiterer Erörterungen zu wählen. Immerhin zeigt sie, dass das Sittenwidrigkeitsurteil grundsätzlich einen Konsens über das "Billige und Gerechte" voraussetzt ("aller"!). Es reicht also nicht die persönliche moralische Überzeugung des Richters aus, um ein Rechtsgeschäft als sittenwidrig zu verwerfen. Auch macht die Voraussetzung "billig und gerecht Denkenden" deutlich, dass die übliche Korruption und der übliche Schlendrian selbst dann der Sanktion des § 138 BGB unterfallen können, wenn sie von der Mehrheit der Bevölkerung praktiziert werden.
Man kann den Inhalt der "guten Sitten", auch wenn man von der Formel der Rechtsprechung ausgeht, noch weiter differenzieren. So unterteilt Larenz den Inhalt in den sozialethischen und den rechtsethischen Inhalt der guten Sitten.
Zum sozialethischen Inhalt der guten Sitten gehören dabei jene sozialen, nicht unbedingt rechtlich normierten Verhaltensanforderungen, die auf denjenigen Wertvorstellungen beruhen, die nach der gemeinsamen Überzeugung der Angehörigen der betroffenen Kreise für den gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Verkehr unentbehrlich sind.
Neben dieser herrschenden sozialethischen Moral gibt es auch rechtsethische Prinzipien und Wertvorstellungen, die sich aus Werten, die der Rechtsordnung selbst immanent sind, ergeben. Insbesondere die Wertmaßstäbe des Grundgesetzes und hier wiederum besonders die in den Grundrechten verankerten Wertentscheidungen erlangen über die Generalklausel des § 138 Abs. 1 BGB Geltung im Privatrecht. Diese "mittelbare Drittwirkung" der Grundrechte im Privatrecht ist allgemein anerkannt. Bei der Prüfung, ob eine "mittelbare Drittwirkung" in einer konkreten Frage in Betracht kommt, ist immer zu beachten, dass nicht jede Kollision eines Rechtsgeschäfts mit grundgesetzlichen Werten schon zur Nichtigkeit nach § 138 Abs. 1 BGB führt, denn ansonsten käme man zu einer in der Konzeption unserer Verfassung nicht vorgesehenen und dementsprechend von der herrschenden Meinung zu Recht auch abgelehnten "unmittelbaren Grundrechtsdrittwirkung".
Im Verhältnis zwischen sozialethischen und rechtsethischen Prinzipien gebührt im Zweifel den letzteren der Vorrang. Insbesondere, wenn eine herrschende Moralauffassung in der Gesellschaft nicht eindeutig festgestellt werden kann, hat sich der Richter an den in unserer Rechtsordnung und hier insbesondere an den im Grundgesetz festgelegten Grundwerten zu orientieren.
Gegenstand des Sittenwidrigkeitsurteils
Gegenstand des Sittenwidrigkeitsurteils ist das Rechtsgeschäft selbst. § 138 BGB soll nicht unsittliches Verhalten als solches sanktionieren, sondern sittenwidrigen Geschäften die Gültigkeit und damit die rechtliche Durchsetzbarkeit nehmen.
Verstößt der Inhalt eines Rechtsgeschäfts gegen die guten Sitten, so ist das Rechtsgeschäft ohne Rücksicht auf die begleitenden Umstände nach § 138 BGB nichtig. Als Beispiel mag der rechtsgeschäftliche Verzicht auf Grundrechte dienen.
Teilweise ergibt sich die Sittenwidrigkeit eines Geschäfts aber nicht allein aus seinem Inhalt, sondern erst aus dem Gesamtcharakter des Rechtsgeschäfts unter Berücksichtigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck. Dann kann das sonstige Verhalten der Parteien durchaus von Belang sein.
Beispiel: Der Verzicht auf den Unterhalt nach einer Scheidung ist an sich möglich und somit nicht allein aufgrund seines Inhalts sittenwidrig. Die Sittenwidrigkeit kann sich jedoch aus dem Zweck des Verzichts ergeben. Dies ist etwa dann der Fall, wenn alleinige Motivation des Verzichts ist, dem an sich Unterhaltsberechtigten einen Anspruch auf Sozialhilfe zu verschaffen.
Zeitpunkt des Sittenwidrigkeitsurteils
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Wirksamkeit eines Rechtsgeschäfts ist grundsätzlich der Zeitpunkt der Vornahme. Dementsprechend sind auch für die Bewertung der Sittenwidrigkeit eines Geschäfts die tatsächlichen Umstände und die Wertvorstellungen in diesem Zeitpunkt entscheidend.
Dies gilt auch dann, wenn sich die Umstände oder Wertvorstellungen nachträglich zu Ungunsten der Parteien ändern, denn würde man zulassen, dass derartige nachträgliche Änderungen ein wirksames Geschäft unwirksam werden ließen, so würde dies eine unerträgliche Rechtsunsicherheit für die Beteiligten mit sich bringen. Derartige Änderungen können somit allenfalls über § 242 BGB zu berücksichtigen sein.
Umstritten ist die Frage, ob der Zeitpunkt der Vornahme auch dann entscheidend ist, wenn sich die Umstände bzw. Wertvorstellungen zugunsten der Parteien ändern. Dies ist zu bejahen, denn es ist schwer denkbar, dass ein eigentlich endgültig, von Anfang an nichtiges Geschäft ohne Weiteres gültig wird. Die gegenteilige Ansicht führt bildlich gesprochen zu dem merkwürdigen Ergebnis, dass eine Totgeburt Wochen und Monate nach der erfolglosen Niederkunft plötzlich zu atmen anfängt. Ein solches Geschäft kann jedoch mittels einer Bestätigung durch Neuvornahme (§ 141 BGB) gültig werden.
Eine andere Antwort auf die Frage nach dem maßgeblichen Zeitpunkt kann jedoch bei Verfügungen von Todes wegen, namentlich beim Testament gegeben werden. Hier müssen die Umstände und die Wertvorstellungen im Zeitpunktes des Erbfalles entscheidend sein. Dies ergibt sich aus mehreren Überlegungen. Zum einen entfaltet das Testament seine endgültige Wirkung erst mit dem Erbfall. Zudem kann der Erblasser zu Lebzeiten seine Verfügung jederzeit frei ändern. Insbesondere wird man dem Grundsatz, dass dem Erblasserwillen soweit wie möglich Rechnung getragen werden soll, nur dann gerecht, wenn man auf die Umstände im Todeszeitpunkt abstellt.
Das folgende Beispiel mag dies illustrieren:
Testamentarische Zuwendungen an Geliebte werden dann für sittenwidrig gehalten, wenn sie allein der Entlohnung geschlechtlicher Hingabe dienen. (Bei diesem Beispiel ist zu beachten, dass die Erbeinsetzung einer Geliebten aus anderen Motiven, z.B. zu ihrer Versorgung, regelmäßig wirksam ist.)
Würde man nun bei einem solchen Mätressentestament, das zunächst auf der genannten Motivation beruhte, auf den Zeitpunkt der Testamentserrichtung abstellen, so wäre dieses Testament auch dann ungültig, wenn der Erblasser die Geliebte vor seinem Tod heiratet. Diese Nichtigkeit ließe sich offensichtlich nicht mehr mit dem Sinn und Zweck des § 138 Abs. 1 BGB begründen.
Subjektives Element?
Umstritten ist, ob die Nichtigkeitsfolge des § 138 Abs. 1 BGB an eine subjektive Voraussetzung geknüpft ist. Als mögliche subjektive Elemente werden genannt:
- Verwerfliche Gesinnung,
- Bewusstsein der Wertung des Geschäfts als sittenwidrig,
- Kenntnis (oder fahrlässige Unkenntnis) der Umstände, auf denen das Sittenwidrigkeitsurteil beruht.
Nach zutreffender Ansicht ist weder eine verwerfliche Gesinnung noch ein Bewusstsein der Wertung als sittenwidrig als obligatorisches ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal zu fordern. Andernfalls würde derjenige, der die guten Sitten gar nicht erst zur Kenntnis nimmt, wirksam kontrahieren können. Damit würde der gänzliche Mangel an "Anstandsgefühl" belohnt. Ausnahmen müssen allerdings dann gelten, wenn sich das Sittenwidrigkeitsurteil gerade aus einer verwerflichen Gesinnung ergibt. Beispiel hierfür ist der Spezialfall des Wuchers in § 138 Abs. 2 BGB, der mit dem Tatbestandsmerkmal des Ausbeutens ein verwerfliches Vorgehen voraussetzt.
Fraglicher ist, ob es wenigstens auf die Kenntnis der tatsächlichen Umstände ankommt, auf denen das Sittenwidrigkeitsurteil beruht. Dies wird jedenfalls vielfach in Literatur und Rechtsprechung angenommen.
Teilweise wird dieser Auffassung entgegen gehalten, dass ein Rechtsgeschäft, dessen Inhalt als sittlich unerträglich empfunden wird, nicht dadurch erträglicher werden kann, dass die Beteiligten sich im Irrtum befinden.
Richtig ist es wohl, in diesem Punkt je nach Einzelfall zu differenzieren. Ergibt sich die Sittenwidrigkeit allein aus dem objektiven Geschäftsinhalt, so ist der letzten Auffassung zu folgen. Auf die Kenntnis der Beteiligten kann es hier nicht ankommen. Beispiel: Ein Knebelungsvertrag wird nicht dadurch erträglicher, dass der Gläubiger irrtümlich angenommen hat, dem Schuldner verbleibe eine gewisse Freiheit.
Anderes gilt dann, wenn sich die Sittenwidrigkeit erst aus dem Geschäftszweck oder sonstigen Umständen ergibt. Hier kann je nach Einzelfall erst eine zu missbilligende Motivation das Sittenwidrigkeitsurteil begründen. Als Beispiel mag hier das schon erwähnte "Mätressentestament" dienen, dessen Sittenwidrigkeit sich erst aus den Absichten der Beteiligten und damit aus einem subjektiven Element ergibt.
Die hier vertretene Auffassung lässt sich zusammenfassend so ausdrücken: Subjektive Faktoren können Unbedenkliches bedenklich machen, während Bedenkliches nicht allein wegen des Fehlens subjektiver Voraussetzungen unbedenklich wird.Fallgruppen
Wenn auch Fallgruppen allein nicht ausreichen, den Sittenverstoß hinreichend zu begründen, so ist doch ihre Kenntnis und ihr Verständnis gerade beim generalklauselartig gefassten § 138 Abs. 1 BGB von unschätzbarem Wert. Deshalb soll nun auf einige wichtige anerkannte Fallgruppen eingegangen werden.
Knebelungsverträge
Knebelungsverträge sind Vereinbarungen, die dem Schuldner jeden wesentlichen geschäftlichen oder persönlichen Handlungsspielraum nehmen. Derartige Verträge sind sittenwidrig.
Der Grund der Sittenwidrigkeit liegt dabei in diesen Fällen weniger in der herrschenden Moral (sozialethischer Inhalt), als in dem in unserer Rechtsordnung geltenden Grundprinzip, dass dem einzelnen eine freie Entfaltung seiner Persönlichkeit möglich sein soll (rechtsethischer Inhalt). Dieses Prinzip ist grundrechtlich (vor allem: Art. 2 GG für die persönliche und Art. 12 GG für die berufliche Betätigung) verankert. Diese Grundrechte finden hier über § 138 Abs. 1 BGB zur erwähnten mittelbaren Drittwirkung.
Zu beachten ist, dass im Rahmen der Privatautonomie eine vertragliche Bindung und damit eine Selbstbeschränkung der Handlungsfreiheit grundsätzlich gerade möglich ist. Ein sittenwidriger Knebelungsvertrag liegt dementsprechend erst dann vor, wenn in den vertraglichen Regelungen eine erhebliche Beschränkung der Handlungsfreiheit zu sehen ist.
Beispielsfall: Ein Hotelier, der bei einer Bank einen Kredit aufnimmt, muss dieser zur Sicherheit nicht nur das gesamte Hotel übereignen, sondern wird überdies verpflichtet, vor jeder unternehmerischen Entscheidung die Zustimmung der Bank einzuholen.
Diese Vereinbarung nimmt dem Hotelier jeglichen Raum zur freien Ausübung seines Gewerbebetriebs und ist somit als sittenwidriger Knebelungsvertrag anzusehen.
Nah mit der Schuldnerknebelung verwandt, ist der Fall der Übersicherung. Hier lässt sich der Gläubiger Vermögensgegenstände des Schuldners übertragen, deren Wert den geschuldeten Betrag wesentlich übersteigt.
Beispiel: A übereignet dem B zur Sicherung eines Kredits in Höhe von 10.000,00 € sein gesamtes Warenlager im Wert von 500.000,00 €.
Derartige Sicherungsverträge führen dazu, dass dem Schuldner die Möglichkeit genommen wird, über das gebundene Vermögen zu verfügen. Damit kann der Schuldner die in Frage stehenden Vermögenswerte zum einen nicht mehr einsetzen, um andere Gläubiger zu befriedigen. Zum anderen kann er sie auch nicht als Sicherheiten für neue Verbindlichkeiten anbieten, was - zumindest dann, wenn wesentliche Teile seines Vermögens durch die Übersicherung erfasst sind - dazu führt, dass seine Möglichkeiten, neue Kredite zu erhalten, sehr gering sind. Zu bedenken ist weiterhin, dass der Gläubiger eine den Wert der gesicherten Forderung weit übersteigenden Sicherung nicht benötigt, und somit kein rechtlich schützenswertes Interesse an einer solchen Übersicherung hat. Damit ist die in der Übersicherung liegende Beschränkung der Handlungsmöglichkeiten des Schuldners als unangemessen und sittenwidrig anzusehen.
Schädigung Dritter
Die Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäfts kann auch darin begründet sein, dass die Parteien den Zweck verfolgen, einen Dritten zu schädigen, bzw. dass eine solche Schädigung durch die Parteien vorausgesehen und in Kauf genommen bzw. infolge grober Fahrlässigkeit nicht vorausgesehen wird.
Als klassisches Beispiel ist die Gläubigergefährdung durch Kredittäuschung zu nennen. Ein typischer Fall einer solchen Gläubigergefährdung liegt vor, wenn ein Gläubiger den Schuldner kurzfristig mit Geld ausstattet, damit dieser gegenüber Dritten kreditwürdig erscheint.
Zu beachten ist, dass es in dieser Fallgruppe entscheidend auf die subjektiven Absichten der Beteiligten ankommt. So ist etwa die unsichtbare Sicherung eines Gläubigers mit Vermögenswerten allein noch keine sittenwidrige Gläubigergefährdung, denn es liegt in der Natur der gebräuchlichsten Sicherungsmittel (Sicherungszession, Sicherungsübereignung, Eigentumsvorbehalt), dass sie nach außen nicht ohne Weiteres erkennbar sind.
Kommerzialisierung des höchstpersönlichen Bereichs
Nach dem in unserer Kultur und auch in unserer Rechtsordnung (vgl. insb. Art. 1 Abs. 1 GG) angelegten Menschenbild, gibt es einen Bereich von Handlungen und Leistungen, die der völlig freien Entscheidung des Einzelnen unterliegen und insbesondere nicht von materiellen Vorteilen abhängig gemacht werden sollen.
Beispiele für diesen höchstpersönlichen Bereich, dessen Kommerzialisierung sich verbietet, sind insbesondere Glaubens- und Gewissensfragen, der Sexualbereich oder der Handel mit Titeln. Demnach ist etwa die arbeitsvertragliche Verpflichtung eines Arbeitnehmers, eine bestimmte Religion anzunehmen oder zu behalten, als sittenwidrig anzusehen (Besonderheiten gelten hier jedoch für Arbeitnehmer der Religionsgemeinschaften!). Auch die Verpflichtung der Prostituierten, gegen Geld den Geschlechtsverkehr durchzuführen, wird als sittenwidrig angesehen. Hier sollte es in der Tat keinen Rechtszwang zur Durchführung des Geschlechtsverkehrs geben. Wenn es aber zum verabredeten Geschlechtsverkehr gekommen ist, stellt sich die Frage. ob die Prostituierte nicht gegen den zahlungsunwilligen Kunden die Zwangsmittel des Rechts sollte einsetzen können. Nunmehr würde es ja nur um die Durchsetzung eines Zahlungsanspruchs gehen. Eine solche Wertung läge auf der Linie der Vorstellungen des Gesetzgebers, den Prostituierten den Schutz des Rechts zuteil werden zu lassen. Sie ist mit dem Prostitutionsgesetz vom 20. Dezember 2001 zum 1. Januar 2002 Gesetz geworden.
In die Fallgruppe des höchstpersönlichen Bereichs gehören auch die sog. Telefonsex-Verträge. Die Sittenwidrigkeit von Telefonsex-Verträgen wird in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich beurteilt. Der BGH hält die Telefonsex-Verträge zwischen Anbieter und Kunden für sittenwidrig, da ein bestimmtes Sexualverhalten der Kunden kommerziell ausgenutzt, die jeweilige Mitarbeiterin des Anbieters als Person zum Objekt und der Intimbereich zur Ware gemacht würde (BGH, NJW 1998, 2895 (2896) mit vielen Nachweisen). Die Gegenansicht weist darauf hin, dass - anders als bei der Prostitution oder bei einer Peep-Show - beim Telefonsex die Anbieterin dem Anrufer nicht ausgeliefert sei, sondern ihr noch ausreichend Fluchträume verblieben; die Anbieterin werde aufgrund des Fehlens eines unmittelbaren persönlichen Kontakts nicht zur bloßen Ware. Hiergegen wendet der BGH wiederum ein, dass die Mitarbeiterinnen des Telefonsex-Anbieters in der Praxis das Telefonat "bei Nichtgefallen" wohl kaum einfach abbrechen könnten.
Selbst wenn man mit der BGH-Rechtsprechung Telefonsex-Verträge als sittenwidrig ansieht, muss das nicht auch zu einem Gegenrecht gegen die Rechte der Telefongesellschaft führen, in deren Gebühren das Entgelt für die Inanspruchnahme der Telefonsexdienste enthalten ist. Das hat der Bundesgerichtshof in einer Entscheidung vom 22. November 2001 - III ZR 5/01 - ausgesprochen. In der Pressemitteilung des BGH heißt es dazu:
Der für das Dienstvertragsrecht zuständige III. Zivilsenat hat entschieden, daß gegenüber der Rechnungsstellung eines Mobilfunknetzbetreibers, der mit dem Adressaten der Rechnung einen Vertrag über Mobilfunkdienstleistungen abgeschlossen hat, nicht der Einwand erhoben werden kann, die in der Rechnung aufgeführten 0190-Sondernummern seien zu dem Zweck angewählt worden, (sittenwidrige) Telefonsex-Gespräche zu führen.
Die Klägerin verlangt von der Beklagten, mit der sie einen Vertrag über Mobilfunkdienstleistungen abgeschlossen hatte, Zahlung von mehr als 20.000 DM. Die in Rechnung gestellten Beträge beruhen im wesentlichen darauf, daß unter Benutzung des Mobilfunktelefonanschlusses der Beklagten 0190-Sondernummer-Verbindungen hergestellt und aufrechterhalten wurden. Die Beklagte hat die Begleichung der Rechnungen mit der Begründung verweigert, ihr Vater habe diese Sondernummern angewählt, um Telefonsex zu betreiben.
Das Berufungsgericht hat unter Hinweis darauf, daß nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Urteil vom 9. Juni 1998 - XI ZR 192/97 - NJW 1998, 2895) Telefonsex-Verträge nach § 138 Abs. 1 BGB sittenwidrig und nichtig sind, die Klage zum größten Teil abgewiesen.
Die Revision der Klägerin hatte in der Hauptsache Erfolg. Dabei hat der III. Zivilsenat offengelassen, ob bezüglich der Beurteilung der Sittenwidrigkeit von Telefonsex-Verträgen an der Rechtsprechung des XI. Zivilsenats festzuhalten ist. Die Frage der rechtlichen Bewertung derartiger Verträge stellt sich jedenfalls dann völlig neu, wenn das vom Bundestag bereits beschlossene Gesetz zur Verbesserung der rechtlichen und sozialen Situation der Prostituierten in Kraft treten sollte.
Der III. Zivilsenat hat die Klageforderung insbesondere deshalb für berechtigt erachtet, weil sowohl der zwischen einem Netzbetreiber und seinem Kunden geschlossene Telefondienstvertrag als auch die vertraglich in erster Linie geschuldete Leistung - Herstellen und Aufrechterhalten einer Telefonverbindung - wertneutral sind. Der Netzbetreiber hat keinen Einfluß darauf, welche Teilnehmer zu welchen Zwecken in telefonischen Kontakt treten. Der Inhalt der geführten Gespräche ist für ihn nicht kontrollierbar und geht ihn nichts an.
Diese Grundsätze haben nach Meinung des III. Zivilsenats auch bei der Anwahl von 0190-Sondernummern zu gelten. Dabei fällt entscheidend ins Gewicht, daß die Verantwortlichkeit für den Inhalt der bei der Anwahl von 0190-Sondernummern neben der bloßen Verbindungsleistung zu erbringenden weiteren Dienstleistung nach § 5 Abs. 1 und 3 des Teledienstegesetzes vom 22. Juli 1997 (BGBl. I S. 1870) im allgemeinen nur bei dem Diensteanbieter selbst, nicht auch bei dem die Verbindung zwischen dem Anrufer und dem Diensteerbringer herstellenden Netzbetreiber liegt. Zwar werden bei der Anwahl von 0190-Sondernummern deutlich höhere Entgelte als bei sonstigen Gesprächen von gleicher Dauer verlangt, weil darin neben den Verbindungspreisen auch die Vergütung der Diensteanbieter enthalten ist. Dies ändert aber nichts daran, daß das Abrechnungsverhältnis zwischen dem Kunden und dem Netzbetreiber auf dem Telefondienstvertrag nebst der jeweils gültigen Preisliste gründet.
Verstöße gegen die Ehe- und Familienordnung
Verstöße gegen das sittliche Wesen der Ehe oder gegen familienrechtliche Werte können Verträge sittenwidrig machen.
Als Beispiel sittenwidriger, weil gegen die Familienordnung verstoßender Verträge werden oft Leihmütterverträge genannt mit der Begründung, dass diese Verträge das Kind in sittenwidriger Weise zum Gegenstand eines Handels machen würden. Die Nichtigkeit derartiger Verträge ergibt sich jedoch schon aus § 1747 Abs. 1 S. 1 BGB, der der Privatautonomie in diesem Bereich keinen Raum lässt. Ein Rückgriff auf § 138 Abs. 1 BGB ist hier nicht notwendig.
Gemäß § 138 Abs. 1 BGB sittenwidrig, weil der Familienordnung widersprechend, sind jedoch Verträge über heterologe Insemination, wenn das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung nicht gewahrt, und die Vermeidung eines Konflikts zwischen biologischer und rechtlicher Elternschaft nicht gewährleistet ist.
Verstöße gegen Standesregeln
Beschränkungen der Handlungsfreiheit durch Standesregeln finden sich bei manchen freien Berufen, insbesondere bei Ärzten und Rechtsanwälten. Derartige Standesregeln sind teilweise gesetzlich geregelt, wie dies etwa bei Beschränkungen der zulässigen Werbung der Fall ist (vgl. den für Anwälte geltenden § 43b BRAO). Ein Verstoß gegen diese Normen führt zur Anwendung des § 134 BGB.
Teilweise sind die Standesregeln zwar anerkannt, aber nicht rechtlich normiert, und damit nur der Sittenordnung zuzurechnen. Ein Verstoß gegen derartige unnormierte Standesregeln kann zur Sittenwidrigkeit i.S.d. § 138 Abs. 1 BGB führen. Die Sittenwidrigkeit lässt sich hier zumeist damit begründen, dass dem Verstoßenden ein ungerechtfertigter Vorsprung vor den sich standesgemäß verhaltenden Konkurrenten zukommt.
Beispiel für ein den deutschen Standesregeln widersprechendes und damit sittenwidriges Geschäft ist die Vereinbarung eines Erfolgshonorars bei Anwälten (anders in den USA). Die Vereinbarung des Erfolgshonorars führt zu einem übermäßigen finanziellen Eigeninteresse des Anwalts am Ausgang des Prozesses und damit zu einer Gefährdung seiner Stellung als besonderes Organ der Rechtspflege (vgl. § 1 BRAO).
Dieses Verbot ist gesetzlich gelockert worden, nachdem das Bundesverfassungsgericht das strikte und ausnahmslos geltende Verbot für verfassungswidrig erklärt hat (Entscheidung vom 12.12.2006, Az.: 1 BvR 2576/04). Rechtsanwalt und Mandant können in einzelnen Fällen eine erfolgsbasierte Vergütung vereinbaren, wenn sie damit den besonderen Umständen der konkreten Angelegenheit Rechnung tragen. Die Regelung zielt insbesondere auf Fälle, in denen der Mandant in Anbetracht seiner wirtschaftlichen Verhältnisse vernünftigerweise von der Rechtsverfolgung absehen würde, wenn er nicht die Möglichkeit hat, mit dem Rechtsanwalt ein Erfolgshonorar zu vereinbaren. Ein solcher Fall kann etwa vorliegen, wenn eine Partei einen wertvollen, aber sehr unsicheren Wiedergutmachungsanspruch geltend machen will und die Anwaltskosten hierfür nicht aufbringen kann. Auch eine hohe, streitige Schmerzensgeldforderung kann für einen Geschädigten unter Umständen wirtschaftlich nur durchsetzbar sein, wenn er im Verlustfall nicht zusätzlich zu den Gerichtskosten und gegnerischen Anwaltskosten auch noch die eigenen Anwaltskosten zu tragen hat. Gleiches gilt, wenn ein mittelständischer Unternehmer vor der Frage steht, eine hohe Vergütungsforderung geltend zu machen, obwohl die Gegenseite Gewährleistungsrechte geltend macht und das Prozessrisiko erheblich ist.
Ausnutzung von Machtpositionen und Überforderung des Schuldners, insbesondere die Bürgenentscheidungen des BGH und des BVerfG
Die Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäfts kann sich letztlich auch daraus ergeben, dass ein Geschäftspartner eine wirtschaftliche oder sonstige Machtstellung (insbesondere ein Monopol) ohne sachliche Rechtfertigung dazu ausnutzt, dass er sich übermäßige Vorteile versprechen lässt.
Beispiel: Im Arbeitsverhältnis ist der Arbeitgeber regelmäßig strukturell überlegen, denn der Arbeitnehmer ist üblicherweise auf die Einstellung und den Erhalt seines Arbeitsplatzes angewiesen (Ausnahmen gelten teilweise bei hoch qualifizierten, gesuchten Fachleuten). Nutzt der Arbeitgeber diese Machtstellung einseitig zu seinem Vorteil aus, etwa indem er im Arbeitsvertrag eine Verlustbeteiligung des Arbeitnehmers ohne angemessenen Ausgleich vereinbart, so ist diese Vereinbarung sittenwidrig.
Besonders viel diskutiert wird in den letzten Jahren die Frage, ob § 138 Abs. 1 BGB zur Nichtigkeit von Verpflichtungen führt, die über die voraussichtliche Leistungsfähigkeit des Schuldners hinausgehen. Diskutiert wird diese Frage insbesondere mit Bezug auf Bürgschaften vermögensloser Familienmitglieder.
Die Rechtsprechung des für Bürgschaftsfälle zuständigen 9. Zivilsenats des BGH ist hier lange davon ausgegangen, dass allein die Tatsache, dass eine Verpflichtung vom Schuldner voraussichtlich nicht zu erfüllen ist, nicht zur Sittenwidrigkeit des Vertrages führt. In den Leitsätzen seines insoweit grundlegenden Urteil vom 28. Februar 1989 - IX ZR 130/88 – BGHZ 107, 92 führte der 9. Zivilsenat u.a. aus:
"Die Vertragsfreiheit als Teil der Privatautonomie läßt es zu, auch risikoreiche Geschäfte abzuschließen und sich zu Leistungen zu verpflichten, die nur unter besonders günstigen Bedingungen erbracht werden können."
Der notwendige Schutz der Menschenwürde eines Überschuldeten würde in ausreichender Weise durch den Vollstreckungsschutz der ZPO geleistet.
Dieser auch in der Literatur teilweise heftig kritisierten Rechtsprechung ist zunächst der für Gesamtschulden zuständige 11. Zivilsenat des BGH entgegengetreten. Im Urteil vom 22. Januar 1991 (XI ZR 111/90) zur gesamtschuldnerischen Mitverpflichtung führt der 11. Zivilsenat aus:
"Die finanzielle Überforderung des Darlehensnehmers kann es jedenfalls zusammen mit anderen Geschäftsumständen rechtfertigen, einem Darlehensvertrag aufgrund einer Gesamtwürdigung die rechtliche Wirksamkeit zu versagen."
1993 hatte sich dann das Bundesverfassungsgericht mit dem Fragenkreis auseinander zu setzen (BVerfG, NJW 1994, 36, 38 ff.). Die Entscheidung betraf u.a. folgenden
Sachverhalt: Der Vater der Beschwerdeführerin war zunächst als Immobilienmakler tätig; er errichtete und verkaufte Eigentumswohnungen. Im Jahre 1982 begehrte er von der Stadtsparkasse C. eine Verdoppelung seines Kreditlimits von 50.000 DM auf 100.000 DM. Als die Stadtsparkasse eine Sicherheit verlangte, unterzeichnete die damals 21jährige Beschwerdeführerin am 29. November 1982 eine vorgedruckte Bürgschaftsurkunde mit einem Höchstbetrag von 100.000 DM zuzüglich Nebenleistungen, in der es unter anderem heißt:
1. Die Bürgschaft wird zur Sicherung aller bestehenden und künftigen, auch bedingten oder befristeten Forderungen der Sparkasse gegen den Hauptschuldner ... aus ihrer Geschäftsverbindung ... übernommen. ...
3. Die Bürgschaft ist selbstschuldnerisch unter Verzicht auf die Einrede der Vorausklage übernommen. Der Bürge verzichtet auf die Einreden der Anfechtbarkeit und der Anrechenbarkeit ... sowie auf die Einrede der Verjährung der Hauptschuld ... .Der Bürge kann keine Rechte aus der Art oder dem Zeitpunkt der Verwertung oder der Aufgabe anderweitiger Sicherheiten herleiten. Die Sparkasse ist nicht verpflichtet, sich an andere Sicherheiten zu halten, bevor sie den Bürgen in Anspruch nimmt. ...
Die Krediterhöhung wurde daraufhin bewilligt. Die Beschwerdeführerin erhielt für das Kreditkonto ihres Vaters ein Zeichnungsrecht, verfügte selbst aber über kein Vermögen. Sie hatte keine Berufsausbildung, war überwiegend arbeitslos und verdiente zur Zeit der Bürgschaftserklärung in einer Fischfabrik 1.150 DM monatlich netto.
Im Oktober 1984 gab der Vater der Beschwerdeführerin sein Immobiliengeschäft auf und betätigte sich nunmehr als Reeder. Die Stadtsparkasse finanzierte den Kauf eines Schiffes mit 1,3 Mio. DM. Im Dezember 1986 kündigte sie die offen stehenden Kredite (etwa 2,4 Mio. DM) und teilte der Beschwerdeführerin mit, dass sie aus der Bürgschaft in Anspruch genommen werde.
Auch diesen Fall hatte der 9. Zivilsenat im Sinne seiner ursprünglichen Rechtsprechung entschieden. Er verneinte die Sittenwidrigkeit der Bürgschaft.
Mit der Verfassungsbeschwerde rügte die Tochter dann vor dem Bundesverfassungsgericht die Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip.
Das Bundesverfassungsgericht hat sich im Ergebnis weitgehend der Haltung des 11. Zivilsenats angeschlossen. In den Gründen erkennt es zwar zunächst die Privatautonomie des Einzelnen und damit auch die Möglichkeit risikoreicher Geschäfte als durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet an. Es sieht die Privatautonomie dann jedoch als notwendigerweise begrenzt und der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber bedürftig an. Diese Ausgestaltung der privatautonomen Betätigung durch das Zivilrecht müsse die grundrechtlichen Vorgaben beachten. Damit müsse das Zivilrecht zwar einerseits die privatautonome Betätigung des Einzelnen ermöglichen. Es dürfe jedoch andererseits nicht ausschließlich zu einem "Recht des Stärkeren" führen. Insbesondere müsse verhindert werden, dass zivilrechtliche Verträge zur Fremdbestimmung strukturell unterlegener Parteien genutzt würden. Dies sei durch entsprechende Anwendung der zivilrechtlichen Generalklauseln und hier insbesondere eben auch des § 138 BGB möglich. Im Ergebnis kam es im vorliegenden Fall zum Urteil, dass der BGH diese Grundsätze nicht beachtet hätte.
Sittenwidrig sind nach dieser Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mithin Verträge, die
- für eine Seite ungewöhnlich belastend und als Interessenausgleich offensichtlich unangemessen sind, und
- die Folge strukturell ungleicher Verhandlungsstärke sind.
Aufgrund dieses, in der Literatur größtenteils begrüßten Urteils hat auch der 9. Senat des BGH in mehreren Folgeentscheidungen die Sittenwidrigkeit von Bürgschaften vermögensloser Familienangehöriger angenommen. Dabei kann man die folgenden drei Punkte als die von der Rechtsprechung geforderten Voraussetzungen der Sittenwidrigkeit von Bürgschaften, die den Bürgen überfordern, ausmachen:
Die Bürgschaft ist in einer Zwangslage abgegeben worden (etwa aufgrund familiärer Verbundenheit); sie überfordert den Bürgen; der Bürge zieht aus dem verbürgten Geschäft selbst keinen unmittelbaren Vorteil.Die bisherige weitere Entwicklung der Rechtsprechung ist durch die Tendenz gekennzeichnet, Bürgschaften von (gerade mal erwachsenen) Kindern für die Geschäfte ihrer Eltern einer "Vermutung der Sittenwidrigkeit" zu unterwerfen, während Bürgschaften von Ehegatten wegen der nicht von der Hand zu weisenden Gefahr der Vermögensverschiebung zwar weniger misstrauisch betrachtet, aber mit zusätzlichen Kautelen versehen werden. Diese Kautelen führen letztlich dazu, dass die Inanspruchnahme der Bürgschaft durch den Gläubiger an die Bedingung geknüpft wird, dass ein Vermögenserwerb des Bürgen stattgefunden hat (Entscheidung vom 23. Januar 1997, IX ZR 69/96, NJW 1997, 1003).
Die Rechtsprechung zur Bürgschaft finanziell überforderter Ehegatten findet entsprechende Anwendung, wenn Hauptschuldner und Bürge durch eine eheähnliche Lebensgemeinschaft verbunden sind (BGH, Urteil vom 23. Januar 1997, IX ZR 55/96, WM 1997, 465).
Diese Rechtsprechung ist sowohl auf Zustimmung wie auf Kritik in der Literatur gestoßen. Die Kritiker verweisen letztlich wie zuvor der 9. Zivilsenat darauf, dass die Bürgschaft ein an sich risikoreiches Geschäft sei und dass der Bürge privatautonom selbst entscheiden müsse, ob er das mit der Bürgschaft verbundene Risiko tragen könne. Die Sittenwidrigkeit solcher den Bürgen überfordernder Bürgschaften sei erst dann anzunehmen, wenn zusätzliche Besonderheiten (etwa bei der Veranlassung der Bürgschaftserklärung) vorliegen. Dies sei etwa dann der Fall, wenn, wie es im oben geschilderten Fall des Bundesverfassungsgerichts geschehen war, der Bürgin erklärt wird: "Unterschreiben Sie das mal, ich brauche das (nur) für meine Akten" und zudem jede Begrenzung der Hauptschuld fehlte.
Insgesamt wird die weitere Entwicklung dieses viel diskutierten Problembereichs zu beobachten sein. Denn auch in der Rechtsprechung ist die Diskussion nicht zur Ruhe gekommen. Der IX. und der XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs haben zu keiner einheitlichen Linie der Beurteilung der Ehegattenbürgschaften gefunden (vgl. Tonner, Sittenwidrigkeit von Ehegattenbürgschaften, JuS 2000, 17). Am 29.06.1999 hat der XI. Senat den lange fälligen Schritt getan und mit einem Vorlagebeschluss den Großen Senat in Zivilsachen angerufen (XI ZR 10/98, NJW 1999, 2584). Dazu hat sich der IX. Senat in ungewöhnlicher Weise zu Wort gemeldet und die Vorlage des XI. Senats als nicht rechtens deklariert (NJW 2000, 1185). Der Große Senat in Zivilsachen wird auch ohne diese Auseinandersetzung keine Gelegenheit bekommen, in dieser Frage eine klärende Entscheidung zu fällen. Der Revisionskläger hat seine Revision in der Sache, in der die Vorlage erfolgt war, zurückgenommen hatte (vgl. ZIP aktuell, Heft 11/2000, A 24 Nr. 53) und damit dem Bundesgerichtshof die Entscheidungsmöglichkeit genommen. Der XI. Zivilsenat hielt sich in der Folgezeit zu Änderungen der Rechtsprechung ohne Anrufung des Großen Senats für Zivilsachen gemäß § 132 GVG in der Lage, weil er nach dem Geschäftsverteilungsplan des Bundesgerichtshofs seit dem 1. Januar 2001 an Stelle des IX. Zivilsenats für Bürgschaftssachen zuständig war (vgl. BGHZ 151, 34 = NJW 2002, 2228 unter II.2.b).Wucher (§ 138 Abs. 2 BGB)
Auch der in § 138 Abs. 2 BGB geregelte Wucher bildet eine spezielle Fallgruppe des sittenwidrigen Geschäfts ("insbesondere"). Liegen die besonderen Voraussetzungen des § 138 Abs. 2 BGB vor, so braucht nicht weiter geprüft zu werden, ob das Geschäft nach seinem Gesamtcharakter sittenwidrig ist, denn das Gesetz sieht es so an.
Objektive Voraussetzungen
Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung
Objektiv erfordert § 138 Abs. 2 BGB zunächst ein auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung.
Wann ein solches Missverhältnis vorliegt, kann nicht verallgemeinernd gesagt werden, sondern ist durch eine umfassende Würdigung der Umstände des Einzelfalles zu ermitteln. Der Gesetzgeber hat bewusst auf eine Festlegung einer bestimmten Wertrelation verzichtet, wie sie etwa das spätrömische Recht mit der so genannten "laesio enormis" (=Überschreitung des üblichen Preises um mehr als das Doppelte) vorsah.
Immerhin ist beim Darlehen bei einer Überschreitung des marktüblichen Zinses von mehr als 100% oder bei einem Zinssatz von 40% in der Regel von einem Missverhältnis i.S.d. § 138 Abs. 2 BGB auszugehen. Dennoch müssen auch bei derartigen Zinsen die Umstände des Einzelfalles beachtet werden. So kann in Zeiten hoher Zinsen schon eine geringere Überschreitung genügen, während in Zeiten niedriger Zinsen auch höhere Überschreitungen je nach den sonstigen Umständen des konkreten Falles noch sittengemäß sein können.
Relevante Umstände, aus denen sich im konkreten Fall ein Missverhältnis ergeben kann, können etwa sein: Marktüblichkeit, allgemeine Marktlage, Risikoverteilung, Spekulationscharakter des Geschäfts, u.ä..
Zwangslage usw.
Als nächstes objektives Tatbestandsmerkmal setzt § 138 Abs. 2 BGB auf Seiten des Bewucherten eine Zwangslage, Unerfahrenheit, einen Mangel an Urteilsvermögen oder eine erhebliche Willensschwäche voraus. Einer dieser Umstände muss objektiv vorliegen. Dabei werden die genannten Begriffe weit ausgelegt.
Eine Zwangslage liegt vor, wenn wegen einer augenblicklich dringenden Bedrängnis ein zwingendes Bedürfnis nach Sach- oder Geldleistungen besteht, welches dem Bewucherten das Eingehen des Geschäfts als das noch kleinere Übel erscheinen lässt. Dabei muss die Bedrängnis nicht unbedingt wirtschaftlicher Art sein. Dies wird de facto jedoch zumeist der Fall sein.
Beispiel: Der Geschäftsmann G steht aufgrund fehlgeschlagener Spekulationen kurz vor dem Ruin. Die Fortführung seines Geschäfts erfordert dringend neue Geldmittel. Dies schildert er seinem Bekannten B, der ihm daraufhin ein Darlehen mit monatlichen Zinsen in Höhe von 10% gewährt (Kreditwucher).
Unerfahrenheit ist der Mangel an Lebens- oder Geschäftserfahrung. Die Unerfahrenheit kann entweder eine allgemeine sein oder sich auf bestimmte Lebens- und Wirtschaftsbereiche beschränken. Nicht ausreichend ist hingegen, dass keine Erfahrungen mit einem bestimmten Geschäft vorliegen. So ist ein in einer bestimmten Branche wenig kundiger Kaufmann dennoch nicht unerfahren i.S.d. § 138 Abs. 2 BGB.
Beispiel für Unerfahrenheit: Ein Ausländer, der mit den hiesigen wirtschaftlichen Verhältnissen noch nicht vertraut ist, wird ein mit 20% verzinsliches Darlehen als "Starthilfe" angeboten. Er nimmt dieses Angebot an.
Ein Mangel an Urteilsvermögen besteht, wenn jemandem in erheblichem Maße die Fähigkeit fehlt, sich bei rechtsgeschäftlichem Handeln von vernünftigen Beweggründen leiten zu lassen oder das Äquivalenzverhältnis der beiderseitigen Leistungen richtig zu bewerten. Der Mangel an Urteilsvermögen muss sich anders als die Unerfahrenheit gerade auf das konkrete Geschäft beziehen. Das fehlende Urteilsvermögen kann etwa auf zu hohem Alter, auf geringem Bildungsgrad oder auf einer Verstandesschwäche beruhen.
Beispiel: Der einfältige A, der keinen Schulabschluss hat, lässt sich zum Kauf des Münchner Kommentars überreden.
Unter erheblicher Willensschwäche ist eine verminderte Widerstandsfähigkeit zu verstehen, die z.B. auf Drogenabhängigkeit oder Alkoholismus beruhen kann. Auch die erhebliche Willensschwäche muss hinsichtlich des konkreten Geschäfts vorliegen.
Beispiel: Der Heroinabhängige H, der schon unter ersten Entzugserscheinungen leidet, lässt sich ein Darlehen zu 60% Zinsen geben, um neue Drogen kaufen zu können.
Subjektive Voraussetzungen
Subjektiv setzt § 138 Abs. 2 BGB voraus, dass der Wucherer die Zwangslage, die Unerfahrenheit, den Mangel an Urteilsvermögen oder die erhebliche Willensschwäche eines anderen ausbeutet.
Ausbeuten ist das bewusste Ausnutzen der gegebenen schlechten Situation des Bewucherten.
Dies setzt Kenntnis des Wucherers sowohl von der besonderen Situation des Bewucherten wie auch Kenntnis des Missverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung voraus. Einen fahrlässigen Wucher gibt es demgemäß nicht. Ausreichend ist jedoch Eventualvorsatz hinsichtlich der genannten Umstände.
Fehlt das subjektive Tatbestandsmerkmal der Ausbeutung, so liegt kein Wucher vor. Dies hat das OLG Stuttgart (NJW 1979, 2409, 2412) zwar bestritten, indem es nach dem so genannten "Sandhaufen-Theorem" das Vorliegen des subjektiven Merkmals dann für entbehrlich gehalten hat, wenn das Tatbestandsmerkmal des Missverhältnisses "übererfüllt" sei. Dieser Auffassung wird jedoch in Literatur und auch vom BGH zu Recht entgegen gehalten, dass der Richter nicht Theoreme, sondern das Gesetz anzuwenden habe, und dass letzteres das subjektive Merkmal eben voraussetzt. Auch eine Analogie zu § 138 Abs. 2 BGB in den Fällen "übererfüllter" objektiver Voraussetzungen ist unzulässig, denn es fehlt an einer Gesetzeslücke. Derartige Fälle können nach § 138 Abs. 1 BGB behandelt werden.
Verhältnis des Wuchertatbestandes zu § 138 Abs. 1 BGB
Wie eben angeklungen ist, schließt § 138 Abs. 2 BGB den Rückgriff auf Abs. 1 nicht aus, denn der Wuchertatbestand soll § 138 Abs. 1 BGB konkretisieren und nicht etwa einschränken.
Sind beispielsweise bei einem Ratenkreditvertrag unangemessen hohe Zinsen vereinbart, fehlt es jedoch an einer besonderen Situation des Kreditnehmenden i.S.d. Wuchertatbestandes, so kann das Geschäft nach § 138 Abs. 1 BGB immer noch nichtig sein. Man spricht hier von wucherähnlichen Krediten. Dabei fordert die Rechtsprechung in derartigen Fällen für eine Anwendbarkeit des § 138 Abs. 1 BGB jedoch, dass neben dem auffälligen Missverhältnis noch ein Weiteres (nicht schon in § 138 Abs. 2 BGB) genanntes Sittenwidrigkeitselement hinzukommt. Häufig ist dies eine verwerfliche Gesinnung. Es kommen aber auch die Verletzung von Standesregeln oder andere Umstände in Betracht.
Rechtsfolgen sittenwidriger Geschäfte
Rechtsfolge des Verstoßes gegen die guten Sitten ist die Nichtigkeit des Geschäfts. Wie bei § 134 BGB erfasst auch die Nichtigkeit bei § 138 BGB zunächst nur den sittenwidrigen Teil selbst. Die Wirksamkeit des übrigen Rechtsgeschäfts richtet sich nach § 139 BGB.
Für die Rückabwicklung sittenwidriger Geschäfte ist wiederum von Bedeutung, ob die Nichtigkeit nur das den sittenwidrigen Zweck enthaltene Verpflichtungs- oder daneben auch das an sich abstrakte Verfügungsgeschäft erfasst.
Beim Wucher schließt man aus seinem insofern eindeutigem Wortlaut ("versprechen oder gewähren lässt"), dass nicht nur das Verpflichtungs-, sondern auch das Verfügungsgeschäft des Bewucherten von der Nichtigkeit erfasst wird. Dagegen sind die Verfügungen des Wucherers regelmäßig dinglich wirksam.
Bei § 138 Abs. 1 BGB fehlt eine entsprechende ausdrückliche Regelung. Man muss deshalb aufgrund des Trennungs- und Abstraktionsgrundsatzes die Wirksamkeit der beiden Geschäfte getrennt untersuchen. Aus der Nichtigkeit des Verpflichtungsgeschäfts allein folgt noch nicht die Nichtigkeit des Verfügungsgeschäfts.
Die Verfügung ist demgemäß nur dann nach § 138 Abs. 1 BGB nichtig, wenn sie selbst mit dem Makel der Sittenwidrigkeit behaftet ist. Im Regelfall werden Verfügungen jedoch als "sittlich neutral" und damit wirksam angesehen.
Ausnahmen macht die Rechtsprechung nur dann, wenn sich der Sittenverstoß gerade in der Verfügung auswirkt. Stimmen in der Literatur ist dies noch zu weitgehend. Sie möchten eine Sittenwidrigkeit der Verfügung nur dann annehmen, wenn durch die Nichtigkeit der Verfügung eine sittenwidrige Schädigung Dritter bzw. eine Ausbeutung des einen Vertragsteils durch den anderen verhindert werden kann.
Wenn das Verfügungsgeschäft aufgrund der gleichen Umstände, die das Sittenwidrigkeitsurteil hinsichtlich des Verpflichtungsgeschäfts begründen, auch selbst sittenwidrig ist, spricht man von Fehleridentität.
Soweit – wie im Regelfall – die Verfügungen wirksam sind und die Rückabwicklung demgemäß über das Bereicherungsrecht erfolgt, ist § 817 S. 2 BGB zu beachten. Dieser Norm liegt der Gedanke zugrunde, dass derjenige nicht mit dem Schutz der Rechtsordnung rechnen darf, der sich mit seinem Geschäft außerhalb der Rechts- bzw. Sittenordnung stellt.
Insbesondere: Wucherähnliche Ratenkredite
Vor Erlass des Verbraucherkreditgesetzes, das am 1. Januar 1991 in Kraft getreten ist und mit dem 1. Januar 2002 in das BGB integriert worden ist, versuchte die Rechtsprechung, den Verbraucher vor unangemessenen Kreditverträgen mit dem Instrument der Sittenwidrigkeitskontrolle zu schützen. Sie nahm § 138 Abs. 1 BGB zum Ausgangspunkt der Kontrolle und belegte Konsumentenkredite mit dem Sittenwidrigkeitsverdikt, wenn der vertraglich vereinbarte effektive Jahreszins relativ um mehr als 100% oder absolut um mehr als 12 Prozentpunkte über dem Vergleichszins lag, der den Monatsberichten der Deutschen Bundesbank über den durchschnittlichen Zinssatz bei Ratenkrediten entnommen wurde und wird. Das Verbraucherkreditgesetz hat diese Sittenwidrigkeitskontrolle nicht abgelöst. Im Gegenteil: Der Gesetzgeber hat sich trotz Anmahnung geweigert, eine Regelung für die sittenwidrigen Ratenkredite zu treffen.
Die Monatsberichte der Deutschen Bundesbank werden im Internet als pdf-Dateien zur Verfügung gestellt. Nach dem Bericht Dezember 2005 bewegte sich der Durchschnitt des effektiven Jahreszinses bei Ratenkrediten in den Monaten Februar bis Oktober 2005 zwischen 7,03 und 6,80%.
Mit dem effektiven Jahreszins soll ein einheitlicher Vergleichsmaßstab für Kredite geschaffen werden. In ihm soll die in einem Vomhundertsatz des Nettokreditbetrages (bei Geldkrediten) oder des Barzahlungspreises (bei Leistungskrediten) gemessene Gesamtbelastung pro Jahr zum Ausdruck gebracht werden. Wie das geschehen kann, wollen wir an einem Beispiel verdeutlichen, das dem Handbuch zum Verbraucherkredit von Reifner entnommen ist.
Nettokredit | 10.000,00 DM |
Kreditgebühren (1% p.m.) | 7.200,00 DM |
Bearbeitungsgebühr | 315,00 DM |
Maklercourtage | 500,00 DM |
Gesamtkosten | 8.015,00 DM |
Laufzeit | 72 Monate |
Auszahlung | 1.1.1979 |
Rückzahlung 71 Monatsraten à 250,00 DM | ab 1.2.1979 |
1 Monatsrate à 265,00 DM (letzte Rate) |
In diesem Beispiel fehlt die Angabe des effektiven Jahreszinses, obwohl die Preisangabenverordnung diese Angabe verlangt. Die Rechtsprechung behandelt die Preisangabenverordnung aber nicht als Verbotsgesetz, so dass der Kreditvertrag schon nach § 134 BGB unwirksam wäre. Wir müssen uns also um den effektiven Jahreszinssatz bemühen, um feststellen zu können, ob der Kreditvertrag als wucherähnlicher Kredit nach § 138 BGB nichtig ist.
Betrachtet man den konkreten Kreditfall, so finden wir eine ganze Menge von Angaben zu dem Kreditverhältnis. Der effektive Jahreszins will sich daraus aber nicht ohne Weiteres erschließen. Man könnte allenfalls geneigt sein, die Kreditgebühren mit 1% per Monat auf das Jahr hochzurechnen und einen Jahreszinssatz von 12% per anno annehmen. Mit dieser Milchmädchenrechnung, auf die möglicherweise die Banken durch die Angabe von Monatszinssätzen bauen, läge man aber völlig falsch. Zum einen würden damit nicht die Gesamtkosten erfasst (es fehlen die Bearbeitungsgebühr und die Maklerkosten), zum anderen - und das wiegt schwerer - werden die Kreditgebühren für die gesamte Laufzeit auf den Nettokreditbetrag berechnet (1% von 10.000 sind 100 multipliziert mit 72 Monaten ergibt 7.200), obwohl der Nettokreditbetrag gar nicht für die gesamte Laufzeit zur Verfügung steht. Er wird vielmehr mit jeder Monatsrate um einen noch zu erörternden Tilgungsbetrag geringer. Die Effektivzinsberechnung muss diese Tilgung mit in Rechnung stellen.
Methoden zur Berechnung des effektiven Jahreszinses
Wir kennen verschiedene Methoden der Berechnung des effektiven Jahreszinses. Eine der Methoden lässt sich mit dem Taschenrechner in vertretbarer Zeit bewältigen. Es ist die Uniformmethode. Sie arbeitet mit folgender Formel:
Setzen wir in diese Formel die Werte unseres Falles ein, so erhalten wir einen effektiven Jahreszins von 26,35%.
Mit der Uniformmethode hat die Praxis in der Rechtsprechung sich lange Zeit begnügt. Sie ist unter dem geltenden Recht nicht mehr erlaubt. Im geltenden Recht stehen andere Methoden zur Diskussion. Es handelt sich um finanzmathematische Methoden, die anders als die Uniformmethode universell einsetzbar sind, die aber den Nachteil haben, dass sie nicht in vertretbarer Zeit mit einem Taschenrechner bewältigt werden können. Ihnen liegen nämlich Formeln zugrunde, die sich nicht zum effektiven Jahreszinssatz hin auflösen lassen. Diese Formeln ergeben den korrekten effektiven Jahreszinssatz nur durch wiederholtes Ausprobieren im Wege von Annäherungs- oder Iterationsverfahren. Um solche Iterationsverfahren lediglich mit einem Taschenrechner durchzuführen, braucht man viel Zeit. Die Zeit der Richter ist dafür zu kostbar. In dieser Lage müssen entweder andere ihr Expertenwissen dem Richter in jedem einzelnen Kreditfall zur Verfügung stellen (Beweis durch Sachverständige) oder aber die Richter bekommen solche Instrumente an die Hand, mit denen sie in vertretbarer Zeit die Berechnungen selber durchführen können. Diese Instrumente liegen in der EDV. Hier kann man entweder auf spezielle Kreditprogramme zurückgreifen - da weiß man aber häufig nicht, ob die auch richtig rechnen - oder aber mit einem Tabellenkalkulationsprogramm ein nicht spezifisch auf Kredite ausgerichtetes Rechenprogramm einsetzen, das in der Lage ist, die Daten des Kreditfalles aufzunehmen und den effektiven Jahreszinssatz durch Iterationsverfahren (Zielwertsuche) zu bestimmen. Sachverständiger oder Computer! Eine vertretbare andere Alternative ist nicht in Sicht.
Die Handhabung eines Tabellenkalkulationsprogramms gehört zur Allgemeinbildung und damit auch zur Bildung der Juristen (wenigstens der jüngeren Generation).
§ 4 der Preisangabenverordnung vom 14. Oktober 1992
Verschiedene finanzmathematisch korrekte Methoden stehen miteinander im Streit. Eine spezifisch deutsche Methode ist die 360-Tage-Methode, die in § 4 Abs. 2 Preisangabenverordnung festgelegt war und dem deutschen Rechtsanwender auch durch § 4 Abs. 2 Satz 2 VerbrKrG vorgeschrieben wurde. § 4 Preisangabenverordnung in der Fassung vom 14. Oktober 1992 lautete:
(1) Bei Krediten sind als Preis die Gesamtkosten als jährlicher Vomhundertsatz des Kredits anzugeben und als "effektiver Jahreszins" oder, wenn eine Änderung des Zinssatzes oder anderer preisbestimmender Faktoren vorbehalten ist (§ 1 Abs. 4), als "anfänglicher effektiver Jahreszins" zu bezeichnen. Zusammen mit dem anfänglichen effektiven Jahreszins ist auch anzugeben, wann preisbestimmende Faktoren geändert werden können und auf welchen Zeitraum Belastungen, die sich aus einer nicht vollständigen Auszahlung des Kreditbetrages oder aus einem Zuschlag zum Kreditbetrag ergeben, zum Zwecke der Preisangabe verrechnet worden sind.
(2) Der anzugebende Vomhundertsatz gemäß Absatz 1 beziffert den Zinssatz, mit dem sich der Kredit bei regelmäßigem Kreditverlauf, ausgehend von den tatsächlichen Zahlungen des Kreditgebers und des Kreditnehmers, auf der Grundlage taggenauer Verrechnung aller Leistungen und nachschüssiger Zinsbelastung gemäß § 608 BGB staffelmäßig abrechnen läßt. Bei der Berechnung des anfänglichen effektiven Jahreszinses sind die zum Zeitpunkt des Angebots oder der Werbung geltenden preisbestimmenden Faktoren zugrunde zu legen. Der anzugebende Vomhundertsatz ist mit der im Kreditgewerbe üblichen Genauigkeit zu berechnen.
(3) In die Berechnung des anzugebenden Vomhundertsatzes sind die Gesamtkosten des Kredits für den Kreditnehmer einschließlich etwaiger Vermittlungskosten mit Ausnahme folgender Kosten einzubeziehen:
Kosten, die vom Kreditnehmer bei Nichterfüllung seiner Verpflichtungen aus dem Kreditvertrag zu tragen sind; Kosten mit Ausnahme des Kaufpreises, die vom Kreditnehmer beim Erwerb von Waren oder Dienstleistungen unabhängig davon zu tragen sind, ob es sich um ein Bar- oder Kreditgeschäft handelt; Überweisungskosten sowie die Kosten für die Führung eines Kontos, das für die Tilgungszahlung im Rahmen der Rückzahlung des Kredits sowie für die Zahlung von Zinsen und sonstigen Kosten dienen soll, es sei denn, der Kreditnehmer hat hierbei keine angemessene Wahlfreiheit und diese Kosten sind ungewöhnlich hoch; diese Bestimmung gilt jedoch nicht für die Inkassokosten dieser Rückzahlungen oder Zahlungen, unabhängig davon, ob sie in bar oder auf eine andere Weise erhoben werden; Mitgliedsbeiträge für Vereine oder Gruppen, die sich aus anderen Vereinbarungen als dem Kreditvertrag ergeben, obwohl sie sich auf die Kreditbedingungen auswirken; Kosten für Versicherungen oder Sicherheiten; es werden jedoch die Kosten einer Versicherung einbezogen, die die Rückzahlung an den Darlehensgeber bei Tod, Invalidität, Krankheit oder Arbeitslosigkeit des Kreditnehmers zum Ziel haben, über einen Betrag, der höchstens dem Gesamtbetrag des Kredits, einschließlich Zinsen und sonstigen Kosten, entspricht, und die der Darlehensgeber zwingend als Bedingung für die Gewährung des Kredits vorschreibt.
(4) Ist eine Änderung des Zinssatzes oder sonstiger in die Berechnung des anzugebenden Vomhundertsatzes einzubeziehender Kosten vorbehalten und ist ihre zahlenmäßige Bestimmung im Zeitpunkt der Berechnung des anzugebenden Vomhundertsatzes nicht möglich, so wird bei der Berechnung von der Annahme ausgegangen, daß der Zinssatz und die sonstigen Kosten gemessen an der ursprünglichen Höhe fest bleiben und bis zum Ende des Kreditvertrages gelten.
(5) Erforderlichenfalls ist bei der Berechnung des anzugebenden Vomhundertsatzes von folgenden Annahmen auszugehen:
Ist keine Darlehensobergrenze vorgesehen, entspricht der Betrag des gewährten Kredits 4.000 Deutsche Mark; ist kein Zeitplan für die Tilgung festgelegt worden und ergibt sich ein solcher nicht aus den Vertragsbestimmungen oder aus den Zahlungsmodalitäten, so beträgt die Kreditlaufzeit ein Jahr; vorbehaltlich einer gegenteiligen Bestimmung gilt, wenn mehrere Termine für die Aus- oder Rückzahlung vorgesehen sind, sowohl die Auszahlung als auch die Rückzahlung des Darlehens als zu dem Zeitpunkt erfolgt, der als frühestmöglicher Zeitpunkt vorgesehen ist.
(6) Bei einer vertraglich möglichen Neufestsetzung der Konditionen eines Kredits ist der effektive oder anfängliche effektive Jahreszins anzugeben.
(7) Wird die Gewährung eines Kredits allgemein von einer Mitgliedschaft oder vom Abschluß einer Versicherung abhängig gemacht, so ist dies anzugeben.
(8) Bei Bauspardarlehen ist bei der Berechnung des anzugebenden Vomhundertsatzes davon auszugehen, daß im Zeitpunkt der Kreditauszahlung das vertragliche Mindestsparguthaben angespart ist. Von der Abschlußgebühr ist im Zweifel lediglich der Teil zu berücksichtigen, der auf den Darlehensanteil der Bausparvertragssumme entfällt. Bei Krediten, die der Vor- oder Zwischenfinanzierung von Leistungen einer Bausparkasse aus Bausparverträgen dienen und deren preisbestimmende Faktoren bis zur Zuteilung unveränderbar sind, ist als Laufzeit von den Zuteilungsfristen auszugehen, die sich aus der Zielbewertungszahl für Bausparverträge gleicher Art ergeben.
(9) Bei Krediten, die auf einem laufenden Konto zur Verfügung gestellt werden, sind abweichend von Absatz 1 der Zinssatz pro Jahr und die Zinsbelastungsperiode anzugeben, wenn diese nicht kürzer als drei Monate ist und keine weiteren Kreditkosten anfallen.
Dieser Anordnung können wir zunächst einige Merkmale entnehmen, die für alle Methoden der Berechnung des effektiven Jahreszinssatzes gelten. Es sollen sämtliche Belastungen des Kreditnehmers erfasst werden, die sich auf den Kredit beziehen, d.h. vor allem nicht nur die laufzeitabhängigen Belastungen, sondern auch die Einmalgebühren oder ein eventuelles Disagio. Das kommt in dem Merkmal "ausgehend von den tatsächlichen Zahlungen des Kreditgebers und des Kreditnehmers" zum Ausdruck. Es soll weiterhin eine taggenaue Verrechnung der Leistungen stattfinden. Es müssen mit anderen Worten die genauen Daten der Leistungen festgehalten werden. Die Besonderheit der in § 4 Abs. 2 PreisangabenVO angeordneten Methode lag in zweierlei begründet: zum einen in dem Abstellen auf die "bankübliche Genauigkeit" und zum anderen in der Abrechnung nach dem Tilgungsmodell des § 608 BGB (jetzt § 488 Abs. 2 BGB).
Die bankübliche Genauigkeit führt dazu, dass ein Jahr in zwölf Monate zu je 30 Tagen aufgeteilt wird. Die Abrechnung nach dem Tilgungsmodell des § 488 Abs. 2 BGB (damals § 608 BGB) hat zur Folge, dass ein Jahr lang alle Rückzahlungen in voller Höhe zur Tilgung des Kredits verwendet werden. Auf die sich jeden Monat neu ergebende Nettokreditsumme wird dann der monatlich entstehende Zins berechnet. Am Ende des Jahres werden die im Laufe des Jahres entstandenen Zinsen zusammengefasst und dem Nettokredit zugeschlagen. Damit erhöht sich in diesem Zeitpunkt die zu verzinsende Summe. Die jetzt im folgenden Jahr gezahlten Raten werden aber wieder in voller Höhe von der neu gebildeten Kreditsumme abgezogen.
Den Kreditverlauf macht man sich am besten in einer Tabelle klar, die als gläserner Ratenplan fungiert. Die Tabelle kann man mit einem Tabellenkalkulationsprogramm erstellen. Der interessierte Leser erreicht die Tabelle mit einem Mausclick.
Tilgungsgenaue Verrechnung nach dem Verzugsmodell
Eine konkurrierende Methode kann man die Methode der tilgungsgenauen Verrechnung nennen. Sie unterscheidet sich von der in § 4 Abs. 2 PAngVO angeordneten Methode vor allem durch ein an §§ 271, 367 BGB angelehntes Tilgungsmodell. Danach wird bei jeder Ratenzahlung zunächst der bis dahin entstandene Zins bezahlt und allein ein dann noch übrig bleibender Betrag zur Tilgung des Nettokredits verwendet. So verfährt man nach dem BGB mit allen von Gesetzes wegen zu verzinsenden Forderungen. Den Kreditverlauf macht man sich auch hier am besten in einer Tabelle klar, die als gläserner Ratenplan fungiert. Die Tabelle kann man mit einem Tabellenkalkulationsprogramm erstellen. Der interessierte Leser erreicht die Tabelle mit einem Mausclick.
Die bankübliche Genauigkeit
Die tilgungsgenaue Verrechnung kann für das Jahr mit 12 Monaten à 30 Tagen (bankübliche Genauigkeit) wie für das Jahr mit unterschiedlichen Monatslängen eingesetzt werden. Obwohl im Zeitalter der Computer eine vereinfachte Zinsberechnung mit 12 Monaten à 30 Tagen ein wenig antiquiert anmutet, habe ich von dieser Berechnungsweise aus der Zeit von Bleistift und Papier Gebrauch gemacht, weil das BGB durch die Fristberechnungsvorschriften in den §§ 186 bis 193 (in Sonderheit § 191) diese Berechnungsweise zwar nicht fordert, aber doch legitimiert. Für die Berechnung nach europäischem Muster werden wir uns von der banküblichen Genauigkeit verabschieden müssen.
Berechnung nach europäischem Muster
Europaweit hatten wir uns auf eine dritte Methode einzustellen. Seit dem 1. April 1998 war es durch die Ergänzungsrichtlinie vom 16. Februar 1998 amtlich. Die Mitgliedstaaten mussten binnen zwei Jahren das nationale Recht so anpassen, dass es der Richtlinie entspricht. Was das für den deutschen Gesetzgeber bedeutete, war allerdings alles andere als klar. Das lag daran, dass die Richtlinie selbst eine Vielfalt von Berechnungsverfahren gestattete, die durchaus zu unterschiedlichen Ergebnissen bei einem konkreten Kredit führen können. Man brauchte dazu nur den Anhang II zu studieren, bei dem für einen und denselben Kredit unter A ein Effektivzinssatz von 13,23% und unter B ein Effektivzinssatz von 13,19% (jeweils Beispiel 4) errechnet wird. In der Abteilung A wird mit dem Jahr gerechnet, wie es ist (unterschiedliche Monatslängen), während in der Abteilung B normierte Jahre (52 Wochen oder 12 gleichlange Monate à 30,41666 Tagen) zugrunde gelegt werden.
Der Richtliniengeber schlägt eine Methode vor, die man die Annuitäten- oder Rentenmethode nennen kann. Ihr liegt in der Gestalt, die sie in der Richtlinie gefunden hat, ein von den bisher vorgestellten Methoden völlig verschiedenes Modell zugrunde. Die Berechnung der Zinslast setzt nämlich nicht an dem sich ständig verändernden Kapitalstand an, sondern bei der jeweils gezahlten Rate. In der Rate ist ein Zinsanteil enthalten, der eine Funktion des Zinssatzes und der Zeit ist, die seit der Auszahlung des Kredits bis zum Zeitpunkt der Zahlung der betreffenden Rate vergangen ist. Die Rate muss abgezinst werden, und der effektive Jahreszinssatz ist der, bei dem die Summe der abgezinsten Raten den Nettokredit ergibt. Die allgemeine Formel lautet dafür:
Hier steht n für die Anzahl der Raten, k für die Zahlung, Ak für den Betrag der jeweiligen Rate, tk für die Zeit (in Jahren), die von der Auszahlung des Nettokredits bis zum Ratenzahlungszeitpunkt verflossen ist, und i für den gesuchten effektiven Jahreszinssatz. Am besten macht man sich das vielleicht so klar, dass danach gefragt wird, welchen Betrag man beim Kreditgeber vom Tage der Auszahlung des Nettokredits an hätte anlegen müssen, um bis zum Tage der Zahlung der Rate bei dem Zinssatz i auf den Betrag der Rate zu kommen. Dieses Modell wirkt nicht nur auf den ersten Blick kontraintuitiv. Es ist ja nicht der Kreditnehmer, der beim Kreditgeber Geld anlegt, sondern gerade umgekehrt wird ein Schuh daraus. Der Kreditgeber gibt dem Kreditnehmer Geld. Setzt man bei dem Geld gebenden Kreditgeber an, so kann man das Modell nur noch dadurch retten, dass man von Anfang an den einen Kredit in so viele Teilkredite zerlegt, wie Rückzahlungen durch den Kreditnehmer erfolgen. Der Kreditnehmer enthält also nicht einen Kredit, den er in 72 Raten zurückzahlt, sondern auf einen Schlag 72 Kredite mit unterschiedlichen Laufzeiten. Man kennt die Summe der Teilkredite. Sie macht den Nettokredit aus. Man kennt auch die Höhe der Rückzahlungen. Die sind im Vertrag und Ratenzahlungsplan festgelegt. Man kennt nur nicht die Höhe des einzelnen Teilkredits. Denn sie ist eine auf die Rate angewandte Funktion der Zeit und des (noch zu ermittelnden) Zinssatzes, wobei zur Zeitbestimmung noch die Unsicherheit der Berechnungsmethode hinzutritt (Berechnung unterjähriger Zeitabschnitte nach Normjahr oder nach effektiven Tagen).
Man sollte überlegen, ob man nicht mit dem vertrauteren Bild des Kredits arbeiten kann, der in Raten zurückgezahlt wird und bei dem jede Rate zur Teiltilgung in Höhe des Betrages führt, der nach Abzug der bis dahin aufgelaufenen Zinsen noch übrig bleibt (tilgungsgenaue Verrechnung nach dem Tilgungsmodell des § 367 Abs. 1 BGB). Man muss dabei den Grundgedanken des europäischen Richtliniengebers wahren: Vergleichbarkeit der Kredite über eine einheitliche Berechnung des effektiven Jahreszinssatzes zu gewährleisten. Dies wäre ohne Weiteres der Fall, wenn in dem einen wie dem anderen Modell haargenau dieselben Zinssätze herauskämen. Das war jedenfalls solange gewährleistet, wie man mit einem Normjahr von 12 gleichlangen Monaten zu 30 Tagen arbeiten konnte. Ob dies auch noch gilt, wenn man mit den neuen Normjahren der Richtlinie arbeitet, habe ich noch nicht durchgerechnet. Es gilt mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht, wenn mit den effektiv ins Land gegangenen Tagen gerechnet wird. Aber auch hier stellt sich die Frage, ob die Abweichungen so groß sind, dass sie den Toleranzrahmen der Richtlinie sprengen.
Das vertraute Bild sieht so aus, dass die Berechnung der Zinslast an dem sich durch Tilgungen ständig verändernden Kapitalstand ansetzt. Der Unterschied zur Methode der früheren PreisangabenVO ergibt sich allein aus einer anderen Tilgungsregelung und einer abweichenden Bestimmung für die Bemessung der Zeit. Mit einer Rückzahlung wird entsprechend der Regelung des § 367 Abs. 1 BGB zunächst die aufgelaufene Zinsschuld beglichen und nur der verbleibende Restbetrag zur Tilgung der Haupt- und Kapitalschuld verwandt. Und die Zeit wird jedenfalls nicht nach dem 360-Tage-Modell berechnet. Wörtlich heißt es in der Richtlinie: "Zugrunde gelegt werden für das Jahr 365 Tage oder 365,25 Tage oder (im Falle von Schaltjahren) 366 Tage, 52 Wochen oder 12 gleichlange Monate. Für letztere wird eine Länge von 30,41666 Tagen angenommen." Auch nach dieser Methode ist der effektive Zinssatz der, bei dessen Einsatz die Leistungen des Kreditgebers und des Kreditnehmers mit der letzten Zahlung ausgeglichen sind, bei dem die letzte Zahlung des Kreditnehmers das Kapitalkonto auf Null bringt. Die Zinsschuld wird nach der international üblichen Barwertmethode berechnet. Der Barwert ist der Wert einer Investition, einer Anlage, eines Kapitals K nach einer bestimmten (auf das Jahr bemessenen) Zeit t bei einem bestimmten Zinssatz i.
Die Zinsschuld ergibt sich aus der Differenz zwischen dem Barwert und dem Kapital.
Den Kreditverlauf macht man sich auch hier am besten in einer Tabelle klar, die als gläserner Ratenplan fungiert. Die Tabelle kann man mit einem Tabellenkalkulationsprogramm erstellen. Der interessierte Leser erreicht die Tabelle mit einem Mausclick.
Deutschland hatte die PreisangabenVO im Jahre 2000 an die europarechtliche Entwicklung angepasst.
§ 6 der Preisangabenverordnung vom 28. Juli 2000 in der ab dem 1. Januar 2002 geltenden Fassung
PAngV § 6 Kredite
(1) Bei Krediten sind als Preis die Gesamtkosten als jährlicher Vomhundertsatz des Kredits anzugeben und als "effektiver Jahreszins" oder, wenn eine Änderung des Zinssatzes oder anderer preisbestimmender Faktoren vorbehalten ist (§ 1 Abs. 4), als "anfänglicher effektiver Jahreszins" zu bezeichnen. Zusammen mit dem anfänglichen effektiven Jahreszins ist auch anzugeben, wann preisbestimmende Faktoren geändert werden können und auf welchen Zeitraum Belastungen, die sich aus einer nicht vollständigen Auszahlung des Kreditbetrages oder aus einem Zuschlag zum Kreditbetrag ergeben, zum Zwecke der Preisangabe verrechnet worden sind.
(2) Der anzugebende Vomhundertsatz gemäß Absatz 1 ist mit der im Anhang angegebenen mathematischen Formel und nach den im Anhang zugrunde gelegten Vorgehensweisen zu berechnen. Er beziffert den Zinssatz, mit dem sich der Kredit bei regelmäßigem Kreditverlauf, ausgehend von den tatsächlichen Zahlungen des Kreditgebers und des Kreditnehmers, auf der Grundlage taggenauer Verrechnung aller Leistungen abrechnen lässt. Es gilt die exponentielle Verzinsung auch im unterjährigen Bereich. Bei der Berechnung des anfänglichen effektiven Jahreszinses sind die zum Zeitpunkt des Angebots oder der Werbung geltenden preisbestimmenden Faktoren zugrunde zu legen. Der anzugebende Vomhundertsatz ist mit der im Kreditgewerbe üblichen Genauigkeit zu berechnen.
(3) In die Berechnung des anzugebenden Vomhundertsatzes sind die Gesamtkosten des Kredits für den Kreditnehmer einschließlich etwaiger Vermittlungskosten mit Ausnahme folgender Kosten einzubeziehen:
Kosten, die vom Kreditnehmer bei Nichterfüllung seiner Verpflichtungen aus dem Kreditvertrag zu tragen sind; Kosten mit Ausnahme des Kaufpreises, die vom Kreditnehmer beim Erwerb von Waren oder Dienstleistungen unabhängig davon zu tragen sind, ob es sich um ein Bar- oder Kreditgeschäft handelt; Überweisungskosten sowie die Kosten für die Führung eines Kontos, das für die Tilgungszahlung im Rahmen der Rückzahlung des Kredits sowie für die Zahlung von Zinsen und sonstigen Kosten dienen soll, es sei denn, der Kreditnehmer hat hierbei keine angemessene Wahlfreiheit und diese Kosten sind ungewöhnlich hoch; diese Bestimmung gilt jedoch nicht für die Inkassokosten dieser Rückzahlungen oder Zahlungen, unabhängig davon, ob sie in bar oder auf eine andere Weise erhoben werden; Mitgliedsbeiträge für Vereine oder Gruppen, die sich aus anderen Vereinbarungen als dem Kreditvertrag ergeben, obwohl sie sich auf die Kreditbedingungen auswirken; Kosten für Versicherungen oder Sicherheiten; es werden jedoch die Kosten einer Versicherung einbezogen, die die Rückzahlung an den Darlehensgeber bei Tod, Invalidität, Krankheit oder Arbeitslosigkeit des Kreditnehmers zum Ziel haben, über einen Betrag, der höchstens dem Gesamtbetrag des Kredits, einschließlich Zinsen und sonstigen Kosten, entspricht, und die der Darlehensgeber zwingend als Bedingung für die Gewährung des Kredits vorschreibt.
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In Absatz 2 finden wir die Umsetzung der EG-Richtlinie durch den deutschen Verordnungsgeber. Es wird auf eine Formel und auf Berechnungsbeispiele im Anhang Bezug genommen. Der Verordnungsgeber hat den Anhang der Richtlinie weitgehend abgeschrieben und die Beispiele um zwei kompliziertere Beispiele ergänzt. Außerdem hat er eine Rechengenauigkeit auf zwei Stellen hinter dem Komma vorgegeben und sich für die Bestimmung der Zeiträume auf Jahre zu 12 gleich langen Monaten, 52 Wochen und 365 Tagen festgelegt.
Mit dem 11. Juni 2010 ist die Preisangabenverordnung mit Blick auf die Verbraucherkredite abermals geändert worden. Die Änderungen betreffen vor allem den Anhang. Die Formel sieht ganz anders aus. Inhaltlich hat sie sich indessen nicht geändert. Man hat nur eine andere mathematische Darstellung gewählt. Auch ist die Rechengenauigkeit auf eine Stelle hinter dem Komma festgelegt worden.
Die für die Berechnung des effektiven Jahreszinses relevanten Passagen des § 6 Abs. 2 PreisangabenVO lauten nunmehr:
Ein von Natalia Orlova entwickeltes Programm zur Berechnung des effektiven Jahreszinses nach der neuen Vorschrift steht im Internet zur Verfügung:
http://ruessmann.jura.uni-saarland.de/Kreditberechnung/
Bewertung der unterschiedlichen Methoden
Es ist hier nicht der Ort, über die Richtigkeit der einen oder anderen Methode zu rechten. International sind die Weichen zur Annuitäten- und Rentenmethode gestellt. Vom deutschen Unikat der 360-Tage-Methode haben wir uns verabschieden müssen. Ein geeignetes Modell für eine einheitliche Behandlung der vielen mit dem Zins zusammenhängenden Rechtsfragen (Berechnung des effektiven Jahreszinssatzes, Rückrechnung vorzeitig abgelöster Kredite, Anpassung von Krediten an neue Konditionen, bereicherungsrechtliche Rückabwicklung überzahlter Zinsen bei nichtigen Kreditverträgen) haben uns weder die Richtlinien noch ihre Umsetzung in deutsches Recht beschert. Das Gerechtigkeitsgebot, zu Zinsen nur und insoweit herangezogen zu werden, wie man die Kreditleistung des anderen in Anspruch nimmt, verletzt keine der vorgestellten Methoden. Die Entscheidung für eine der Methoden ist daher ein eher technisches Problem, zu dem unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten nur so viel gesagt werden kann, dass die Entscheidung einheitlich für alle Kredite ausfallen sollte. Unterhalb der Gerechtigkeitsebene mag man noch anführen, dass die 360-Tage-Methode wie auch die Annuitäten- und Rentenmethode einen Zinseszinseffekt aufweisen.
Für die rechtliche Bewertung des konkreten Kreditfalles spielen die unterschiedlichen Methoden keine Rolle. Zur Zeit der Kreditaufnahme betrug der marktübliche effektive Jahreszins für derartige Kredite 7,95%. Die eklatante Überschreitung des Marktzinses durch den Vertragszins machte das Kreditverhältnis sittenwidrig und damit nach § 138 Abs. 1 BGB nichtig. Die Folgen des Sittenwidrigkeitsverdikts sind nach der herrschenden Meinung im Bereicherungsrecht zu suchen. Daran soll auch das Verbraucherkreditrecht (§§ 491 ff. BGB) nichts ändern, obwohl es für die Nichtigkeit wegen Formverstoßes in § 494 BGB andere - und in meinen Augen wenigstens im Grundsatz angemessenere - Rechtsfolgen anordnet.
Rechtsfolgen sittenwidriger (wucherischer oder wucherähnlicher) Kreditverträge
Die Rechtsfolgen sittenwidriger Kreditverträge werden im Bereicherungsrecht gesucht. Dabei hat sich in der Praxis der Rechtsprechung ein Sonderrecht der wucherischen oder wucherähnlichen Kreditverträge herausgebildet, das man durch die folgenden Leitsätze umschreiben kann:
- Der Kreditgeber hat einen Anspruch auf Rückzahlung des Kapitals, des Nettokredits, im Rahmen des vereinbarten Abwicklungsplans. Er muss mit anderen Worten dem Kreditnehmer das Kapital bis zu den vertraglich vereinbarten Fälligkeitszeiten belassen. Der Anspruch auf Rückzahlung des Kapitals wird aus § 812 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 BGB hergeleitet. Er ist nicht durch § 817 Satz 2 BGB ausgeschlossen. § 817 Satz 2 BGB schließt allein den Anspruch auf vorzeitige Rückzahlung des Kapitals aus.
- Der Kreditnehmer braucht keinerlei Zinsen für die Nutzung des ihm zur Verfügung gestellten Kapitals zu entrichten. Auch marktübliche Zinsen werden nicht nach § 818 Abs. 1 und Abs. 2 BGB geschuldet.
- Gezahlte Zinsen kann der Kreditnehmer zurückfordern.
- Der Rückforderungsanspruch erfasst bei Ratenkrediten den in der jeweiligen Rate enthaltenen Zinsanteil. Der Zinsanteil berechnet sich nach einer gleich bleibenden Quote aus dem Verhältnis des Nettokreditbetrages zu den Gesamtkosten des Kredits.
Ob man dieses Regelwerk (und seine Begründungen) gutheißen kann, ist durchaus umstritten. Die Kritik richtet sich insbesondere gegen die Zinslosigkeit des Kredits.