Zweckfortfall und Wegfall der Geschäftsgrundlage

Entwicklung

Die Frage nach der Bedeutung der (unausgesprochenen oder auch ausgesprochenen) Vorstellungen des Erklärenden beim Vertragsschluss beschäftigt schon seit Jahrhunderten die Rechtswissenschaft. Der Grundsatz "pacta sunt servanda" verbietet eine generelle Berücksichtigung des Motivirrtums, da auch die Interessen des Erklärungsempfängers in Rechnung gestellt werden müssen.

Das römische und gemeine Recht kennen ebenso wenig wie das BGB bis zum 31.12.2001 ein Rechtsinstitut des "Fehlens oder Wegfalls der Geschäftsgrundlage". Der Irrende kann sich nur in besonders geregelten Fällen auf einen Motivirrtum beim Vertrag berufen.

Im Mittelalter wurde von scholastischen Moralphilosophen ein selbständiges Rechtsinstitut entwickelt, welches über das kanonische Recht im 15. Jahrhundert in das weltliche Recht gelangte. Es war die Lehre von der "clausula rebus sic stantibus". Mit ihr ging man davon aus, dass bei jedem Rechtsgeschäft der hypothetische Wille der Parteien entscheidend sei, dass also Geschäfte unwirksam seien, wenn die Dinge sich wider Erwarten so entwickelten, dass die Parteien das Geschäft nicht vorgenommen haben würden. Diese Lehre war freilich nicht unumstritten. Jeder Motivirrtum könnte letztlich zur Auflösung eines Vertrages führen, womit die Sicherheit des Vertragsrechts aufgehoben wäre. Der Grundsatz "pacta sunt servanda" hätte jegliche Bedeutung verloren. Die Pandektisten haben diese Lehre stets verworfen, weil sie im römischen Recht keine Stütze finde. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts führte die Besinnung auf den Wert der Vertragstreue dazu, dass die Lehre von der "clausula rebus sic stantibus" überwiegend abgelehnt wurde.

Windscheid brachte Mitte des 19. Jahrhunderts das Problem als "Lehre von der Voraussetzung" wieder zur Diskussion. Nach seiner Auffassung sind Motivirrtümer unbeachtlich, aber zwischen Motiv und Bedingung liege die Voraussetzung, die nicht vereinbart sein müsse. Zur Einbeziehung genüge die einseitige Erhebung zur Voraussetzung. Auch Windscheids Lehre hat sich letztlich nicht durchgesetzt. Zum einen mangelt es ihr an einer eindeutigen Abgrenzung zwischen Motiv und Voraussetzung, zum anderen berücksichtigt diese Lehre die Interessen des Vertragspartners nicht und untergräbt auf diese Weise wiederum das Vertrauen des Rechtsverkehrs in die Beständigkeit von Rechtsgeschäften.

Der Begriff der Lehre vom Fehlen oder Wegfall der Geschäftsgrundlage wurde 1921 von Oertmann geprägt. Seiner Ansicht nach unterscheidet sich die Geschäftsgrundlage vom Motiv darin, dass der Erklärungsempfänger erkennen muss, dass der Erklärende etwas zur Geschäftsgrundlage macht, und dass er dies nicht beanstandet.

Begriff der Geschäftsgrundlage

Das BGB hatte die Problematik nicht allgemein, sondern lediglich in speziellen Fallgestaltungen geregelt, z.B. in §§ 779, 610, 775 BGB. Trotzdem sie das Reichsgericht die Lehre von der Geschäftsgrundlage von Oertmann übernommen, insbesondere, um nach dem 1. Weltkrieg die Folgen der Inflation und Not abzufedern. Nach dem 2. Weltkrieg ist sie in die ständige Rechtsprechung des BGH eingegangen. Ihren gesetzlichen Anknüpfungspunkt fand sie in dem Prinzip von Treu und Glauben (§§ 157, 242). Jetzt (seit dem 1.1.2002) gibt es eine positivrechtliche Normierung des Wegfalls der Geschäftsgrundlage in § 313 BGB.

Die Geschäftsgrundlage war nach der Definition der Rechtsprechung ein nicht zum eigentlichen Vertragsinhalt erhobener Umstand,

  • der mindestens von einer Partei (erkennbar für die andere Partei) beim Vertragsschluss vorausgesetzt wurde,
  • der für diese Partei so wichtig war, dass sie den Vertrag nicht oder zumindest nicht mit dem gleichen Inhalt geschlossen hätte, wenn sie daran gezweifelt hätte,
  • auf dessen Berücksichtigung sich auch die andere Partei hätte redlicherweise einlassen müssen, wenn dies vom Vertragspartner verlangt worden wäre.

Die Regeln, die beim Fehlen oder Wegfall der Geschäftsgrundlage eingreifen, sind entwickelt worden, um auf der Ebene des Schuldrechts bei Verträgen mit gegenseitigem Leistungsaustausch die Folgen schwer wiegender Störungen der Vertragsgrundlagen in den Grenzen des Zumutbaren halten zu können (BGH NJW 1993, 850 (850)).

Große und kleine Geschäftsgrundlage

Häufig werden zwei Fallgruppen unterschieden, nämlich die große und die kleine Geschäftsgrundlage. Unter der großen Geschäftsgrundlage versteht man die Auswirkungen von Sozialkatastrophen (z.B. Kriegs-, Inflationsfolgen u.ä.), die kleine Geschäftsgrundlage erfasst den Rest. Da die Grenzen zwischen beiden fließend sind, bringt die Unterscheidung im Ergebnis wenig.

Objektive und subjektive Geschäftsgrundlage

Während es sich bei der objektiven Geschäftsgrundlage um Umstände handelt, deren Fortbestand die Vertragspartner als völlig gesichert angesehen haben, betrifft die subjektive Geschäftsgrundlage Vorstellungen, von denen sich die Vertragspartner haben leiten lassen. Aber auch hier sind die Übergänge zwischen beiden Arten fließend, so dass man in aller Regel auf diese Unterscheidung verzichtet.

Anwendbarkeit

Die Regeln über das Fehlen und den Wegfall der Geschäftsgrundlage sind nur im Falle einer Regelungslücke, wenn also im konkreten Fall keine Spezialregelungen greifen, anwendbar. Die Auslegung und die ergänzende Vertragsauslegung nach §§ 133, 157 BGB haben Vorrang vor diesem Rechtsinstitut. Kann also eine interessengerechte Lösung durch Auslegung der Willenserklärungen gefunden werden, so besteht kein Bedürfnis mehr für die Anwendung der Lehre von der Geschäftsgrundlage. Als typische Fallgruppen ihrer Anwendung sind zu nennen (nicht abschließend):

  • Äquivalenzstörung: Störung des Leistungs-/Gegenleistungsverhältnisses;
  • Übermäßige Leistungserschwerung: Die Erbringung der Leistung erscheint zu den Vertragskonditionen unzumutbar;
  • Zweckvereitelung;
  • Beiderseitiger Motivirrtum.

Nicht bei jeder Störung der Geschäftsgrundlage erscheint es geboten, zu den Rechtsfolgen der Lehre von der Geschäftsgrundlage zu greifen. Der Grundsatz "pacta sunt servanda" sollte nur durchbrochen werden, wenn sich ein unverändertes Festhalten am Vertrag nach Treu und Glauben für eine Partei als unzumutbar darstellt. Erforderlich ist ein "Sonderopfer" einer Partei. Unerheblich ist es hingegen, wenn beide Parteien in gleichem Maße nachteilig betroffen sind. Des weiteren darf es sich nicht um Umstände handeln, die nach der vertraglichen Vereinbarung oder gesetzlichen Regelungen in den Risikobereich einer Person fallen. Diese Person hat das spezielle Risiko zu tragen und kann sich nicht auf den Wegfall der Geschäftsgrundlage berufen.

Rechtsfolgen

Es ist unerheblich, ob die Geschäftsgrundlage fehlte oder weggefallen ist. Rechtsfolge der Lehre von der Geschäftsgrundlage ist in erster Linie die Anpassung der vertraglichen Vereinbarungen an die neue Situation (§ 313 Abs. 1 BGB). Führt diese Anpassung nicht zu einer interessengerechten Lösung, so hat der Benachteiligte das Recht zum Rücktritt von dem Vertrag (§ 313 Abs. 3 BGB). Bei Dauerschuldverhältnissen bietet sich eine Kündigungsmöglichkeit an (§ 314 BGB).

Abgrenzung zur Unmöglichkeit

Zweckfortfall

Ein Zweckfortfall ist anzunehmen, wenn durch außergewöhnliche Umstände, die nicht auf den Leistungsbereich des Schuldners zurückzuführen sind, insbesondere durch Wegfall der Sache, an der die Leistung vorgenommen wird, der Leistungserfolg verhindert wird.

  • Beispiel: Die Scheune, die zu renovieren war, ist durch einen Brand vollständig zerstört worden.

Nach heute herrschender Meinung ist dies kein Fall des Wegfalls der Geschäftsgrundlage, sondern ein Fall der Unmöglichkeit, da der geschuldete Leistungserfolg (Leistung im Sinne des § 275 BGB meint den Leistungserfolg, nicht die Leistungshandlung!) endgültig unerreichbar geworden ist. Der von der Leistungspflicht freigewordene Schuldner behält gemäß § 326 Abs. 2 Satz 1 BGB seinen Vergütungsanspruch, wenn der Gläubiger den Zweckfortfall zu vertreten hat. Beruht der Zweckfortfall auf höherer Gewalt, so bleibt dem Schuldner ein Anspruch auf eine Teilvergütung. Rechtsgrundlage hierfür ist der allgemeine Rechtsgedanke des § 645 BGB, dass Leistungsstörungen, die auf dem Wegfall des Leistungssubstrats oder fehlender Mitwirkung des Gläubigers beruhen, zur Sphäre des Gläubigers gehören und ihn daher zu einer Teilvergütung verpflichten.

Zweckerreichung

Der Fall der Zweckerreichung liegt vor, wenn der konkret geschuldete Leistungserfolg auf andere Weise als gerade durch die Handlung des Schuldners eintritt.

  • Beispiel: Bevor der zu Hilfe gerufene KFZ-Mechaniker eintrifft, funktioniert das Auto wieder.

Auch hier liegt nach allgemeiner Auffassung ein Fall der Unmöglichkeit vor, weil der geschuldete Leistungserfolg nicht mehr herbeigeführt werden kann. Wie im Fall des Zweckfortfalls hat der Schuldner auch im Falle einer Zweckerreichung zumindest einen Anspruch auf Teilvergütung in entsprechender Anwendung des § 645 BGB.

Zweckstörung

Eine Zweckstörung liegt vor, wenn der Schuldner die Leistung zwar erbringen, der Gläubiger sie aber nicht zweckentsprechend verwenden kann.

  • Beispiel: M mietet bei V für 40 einen Fensterplatz zur Besichtigung eines Festzuges. Der Festzug fällt jedoch aus.

Im Ergebnis besteht Einigkeit darüber, dass M den Mietzins nicht zu zahlen braucht. Die Wege dorthin unterscheiden sich jedoch.

Die wohl überwiegende Meinung geht auch hier von einer Unmöglichkeit aus, weil der Verwendungszweck eine derartige Bedeutung hat, dass der Verkehrswert (hier der Mietwert der Sache) gerade auf der Zweckeignung beruht. Die Unmöglichkeit der Zweckerreichung bedeutet daher Unmöglichkeit der Leistung.

Die Gegenansicht kommt zum selben Ergebnis mit den Regeln vom Wegfall der Geschäftsgrundlage. Sie nimmt keine Unmöglichkeit der Leistung an, weil die Zweckerreichung eher mit der Gegenleistung (hier also der Zahlung des Mietpreises) in Verbindung stehe.

Eine dritte Ansicht nimmt im konkreten Fensterplatzmiete-Fall einen Sachmangel im Sinne des § 536 Abs. 1 BGB an. Das Ergebnis ist wiederum dasselbe, jedoch ist zu berücksichtigen, dass Beziehungen der Sache zu ihrer Umwelt nur dann einen Fehler der Sache selbst begründen können, wenn die Beziehungen in der Beschaffenheit der Sache selbst ihren Grund haben. Dies ist bei dem ausgefallenen Festzug sicherlich nicht der Fall.


Zuletzt geändert: Dienstag, 5. Mai 2015, 11:29