"Die engsten Verbündeten der Frauen sind die Dichter. Sie sind unsere Freunde." (Hélène Cixous)

Seit einigen Jahren ist in Lateinamerika und Spanien eine neue feministische Bewegung erstarkt, deren Mobilisierung unter anderem über Performances und Sprachkunstwerke befördert wurde. Das chilenische Kollektiv Las Tesis fand 2019 über soziale Medien mit seinem Flashmob gegen sexualisierte Gewalt und polizeiliche Übergriffe auf *Frauen millionenfache globale Resonanz; die lang geforderte und 2020 in Argentinien erreichte Legalisierung von Abtreibung wurde unter dem Hashtag #poetasporelderechoalabortolegal von poetischen Fürsprecher*innen unterstützt, die während des Gesetzgebungsprozesses jeden Dienstag vor der Tür des argentinischen Kongresses feministische Gedichte lasen (martes verde). Aber was genau ist eigentlich 'Feminismus', ein Begriff, der aktuell kaum noch im Singular und selten isoliert verwendet wird, sondern als z.B. Post-, Differenz-,Trans-, Queer-, Anarcha-, Afra-, indigener, Öko-, SF-, intersektionaler oder dekolonialer Feminismus näher bestimmt und in seiner sozialen Situiertheit und Pluralität markiert wird? Und unter welchen (sprachlichen, ästhetischen, politischen) Umständen trägt Dichtung zu sozialen Bewegungen der Ent-Unterwerfung bei?
Wir werden uns im Seminar nach einer allgemeinen Einführung zu Gender in Sprache und Dichtung zunächst mit aktuellen Theorien zu vergeschlechtlichten Herrschaftsverhältnissen aus dem spanischen und lateinamerikanischen Kulturraum beschäftigen, wo deren historische Verknüpfung mit Kolonialismus, Rassismus und ökonomischer Ausbeutung eine besondere Rolle spielt. Danach begeben wir uns auf die Spur eines poetisch-feministischen Schreibens ab Beginn des XX. Jahrhunderts, und stellen uns die Frage, inwieweit das spezifische Feld der Dichtungssprache ein Gebiet der Kultur war und ist, von dem aus weniger ungleiche Gesellschaften imaginiert und angestoßen werden können. Wir werden dabei bewußt abseits des etablierten Dichtungskanons lesen, Texte 'männlicher' Autorschaft aber bei der Frage nach dem besonderen kritischen und affektiven Potential von poetischer Sprache nicht vorab ausschliessen, denn unterhalb oder queer zur dominierenden Diskursmacht sind eine Vielfalt verschiedener, z.T. widersprüchlicher, nicht notwendig geschlechtlich determinierter Stimmen zu registrieren.

Anhand ausgewählter, intensiver Einzeltextanalysen wollen wir den Dissonanzen, aber vor allem den Allianzen und Solidaritäten verschiedener *feministischer Dichtungssprachen nachgehen. Das Seminar bietet dabei auch die Gelegenheit, die allgemeinen Grundlagen der Analyse lyrischer Texte zu vertiefen und zu üben, und ermöglicht einen Einblick in Tendenzen der spanischsprachigen Lyrik des XX. Jahrhunderts.