Obwohl das naturalistische Drama erst relativ spät einsetzt, zählt es zu den wesentlichen häufig mit dem Prädikat „innovativ” etikettierten Leistungen des deutschsprachigen Naturalismus. Seit den späten 1880er Jahren etabliert sich das Drama als eines der großen Wirkmöglichkeiten des Naturalismus mit einer entsprechend radikal mimetischen Illusionskunst. Vor dem Horizont der erstarkenden Naturwissenschaften, der philosophischen Grundlagen des Positivismus, des Darwinismus, der Determinismustheorie Hippolyte Tains und der produktiven Rezeption ausländischer Vorbilder entsteht eine sich von klassizistischen Prämissen emanzipierende Dramenkunst, die versucht, den Menschen in seiner Abhängigkeit vom Milieu möglichst wirklichkeitsgetreu auf die Bühne zu bringen. Dazu bricht das naturalistische Drama mit traditionellen poetischen Regeln: die stark konzentrierte Handlung in der Tragödie tritt zugunsten einer möglichst realistischen und psychologisch plausiblen Charakterdarstellung zurück, dem Dramentext vorangestellte Bühnenbilder sowie ausführliche und detailgenaue Regiebemerkungen entfalten ein akribisches Bild des sozialen Milieus, Aufführungs- und dramatische Zeit werden angeglichen, die Handlung ist häufig an einem Ort situiert (Einzimmerdramatik), auf einen individuellen Helden und deklamierende Monologe wird verzichtet und durch den Prosastil und die Verwendung von Idiomen, Sozio- und Dialekt sowie Redeabbrüchen will man dem natürlichen Sprechen bzw. der Alltagssprache der Figuren möglichst nah kommen. Dabei ist den Bühnenstücken eine provokant-skandalöse und sozialkritische Zielrichtung eingeschrieben. Der dramatische Konflikt ist durch die soziale Situation der Unterschichten bedingt und entzündet sich an Armut, Elend, Unterdrückung und Ausbeutung. Krankheit, Suizid, Kriminalität, Alkoholismus oder Prostitution werden als logische Konsequenzen der Lebenswirklichkeit vorgeführt und angeprangert.
Das Proseminar knüpft an das in Grundkurs II erworbene Vorwissen zur Dramenanalyse und -interpretation an und vertieft diese Kenntnisse. Unter methodisch-didaktischen Gesichtspunkten verlangt die Heterogenität des naturalistischen Dramas die Fokusierung auf ausgewählte kanonisierte Werke und Autoren. Daher konzentriert sich das Proseminar auf das Genre des sozialen Dramas, wie es sich exemplarisch im dramatischen Werk des renommiertesten Naturalisten Gerhart Hauptmann manifestiert. Neben seinem naturalistischen Erstlingswerk Vor Sonnenaufgang wird sein die schlesischen Weberaufstände von 1844 dramatisierendes Stück Die Weber und sein analytisches Drama Der Biberpelz systematisch analysiert und interpretiert. Vor der Folie der Programmatik des "konsequenten Naturalismus" lesen wir darüber hinaus das aus der Dichterkooperation zwischen Arno Holz und Johannes Schlaf hervorgegangene Familiendrama Die Familie Selicke. Voraussetzung für eine erfolgreiche Teilnahme ist neben der vorbereitenden Lektüre der Primärtexte und der regelmäßigen und aktiven Mitwirkung die Bereitschaft zur Übernahme einer Sitzungsgestaltung im Rahmen einer ExpertInnengruppe. Das Proseminar wird mit einer schriftlichen Hausarbeit abgeschlossen. Eine Klausur wird nicht angeboten.
Folgende Texte sind in den angegebenen Reclam-Ausgaben anzuschaffen:
Gerhart Hauptmann: Vor Sonnenaufgang (RUB 19017)
Gerhart Hauptmann: Die Weber (Reclam XL 19406)
Gerhart Hauptmann: Der Biberpelz (RUB 19165)
Arno Holz, Johannes Schlaf: Die Familie Selicke (RUB 8987)
- DozentIn: Marlen Wagner