Die „Politik der Straße” hat derzeit in Frankreich einmal wieder Hochkonjunktur, wie die Demonstrationen gegen den "pass sanitaire" zeigen. Dabei reihen sich diese Proteste ebenso wie die Aktionen der sog. „gilets jaunes” in eine lange Tradition des Widerstands ein. Protestbewegungen, die sich auf der Straße artikulieren, sind einerseits Ausdruck der Souveränität des Volkes und aus radikaldemokratischer Perspektive zu begrüßen. Andererseits jedoch geben sie Anlass zur Sorge vor der Herrschaft des „Mobs”, vor einer anarchischen Unterwanderung der durch Wahlen legitimierten Institutionen. Ganz grundsätzlich stellt sich die Frage, wer wirklich „das Volk” ist.
In Frankreich erhält die antagonistische Zuspitzung von Konflikten zwischen der Straße und dem Staat darüber hinaus eine besondere Brisanz dadurch, dass der Gedanke der Republik nicht nur auf der Ebene des Konzepts der Volkssouveränität präsent ist, sondern vielmehr in hohem Maße auch symbolisch zelebriert wird und in höchstem Maße identitätsstiftend ist: Der Gründungsmythos der Republik, der Sturm auf die Bastille, erzählt von der Revolte der Straße als Akt der Selbstermächtigung des Volkes. Die Identität der Republik speist sich aus der Mystifizierung der Französischen Revolution, die zum Erinnerungsort schlechthin wird. Wenn die Straße mithin die Republik erst hervorgebracht hat, so betreffen Konflikte zwischen der Straße und der Republik immer Grundfragen des staatlichen Selbstverständnisses, weisen eine verstörende Ambivalenz auf und verweisen auf tiefgreifende Risse zwischen republikanischem Ideal und sozialer Wirklichkeit.
In diesem Seminar wollen wir uns mit Protestkulturen und Traditionen des Widerstands in Frankreich beschäftigen.
Dies betrifft zwei Blickwinkel:
Synchrone bzw. systematische Perspektive:
- Was sind Dynamiken und Taktiken öffentlicher Versammlungen unter den jeweils herrschenden ökonomischen und politischen Bedingungen? (Judith Butler)
- Welche Bedeutung kommt der physischen Präsenz kollektiver Akteure im öffentlichen Raum zu? (Performativität)
- Welche Rolle spielen Medien?
Diachrone bzw. historische Perspektive:
- Gibt es rekurrente Muster bzw. Universalien in der Protestkultur Frankreichs?
- Was haben so unterschiedliche politische Krisen wie die Commune de Paris, der Boulangisme, die Dreyfus-Affaire, der Front populaire oder Mai 1968 gemein?
- Gibt es eine Grammatik und Rhetorik des Widerstands gegen die Republik, einen Fundus an Denkfiguren, aus dem unterschiedliche Protestbewegungen schöpfen können?
- DozentIn: Florian Henke