Auslegung von Willenserklärungen

Mit einer Willenserklärung will der Erklärende einen bestimmten Rechtserfolg herbeiführen. Dies kann er jedoch nur, wenn der Adressat der Erklärung den konkreten Willen des Erklärenden erkennt und erfasst. Um den Bedeutungsgehalt einer Willenserklärung zu erfassen, muss man sie auslegen. Dabei stehen sich bei der Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen zwei unter Umständen entgegen gesetzte Interessen gegenüber: Der Erklärende ist daran interessiert, dass sein mit der Erklärung verfolgter Wille für die Auslegung maßgeblich ist, selbst wenn dieser Wille in der Erklärung nur unzureichend Ausdruck gefunden haben sollte, der Empfänger dagegen will die Erklärung so gelten lassen, wie er sie verstanden hat. Dem Interesse des Erklärenden hat der Gesetzgeber mit § 133 BGB Rechnung getragen, der anordnet, dass bei der Auslegung einer Willenserklärung der wirkliche Wille zu erforschen und nicht am buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften ist. Der Erklärungsempfänger muss also immer versuchen, den wahren Willen des Erklärenden zu verstehen und muss dazu auch den Kontext der Erklärung heranziehen. Dabei darf der Empfänger keine Wortklauberei betreiben: Ist die Erklärung demnach missverständlich, sprachlich unrichtig oder auch nur ungenau, weil z.B. der Erklärende Ausländer ist und die Sprache nicht sicher beherrscht, dann gilt dennoch das vom Erklärenden Gewollte, wenn sich aus dem Kontext der Situation (Interessenlage, vorangegangenes Gespräch etc.) eindeutig ergibt, was er erklären wollte und/oder wenn der Empfänger die Erklärung in dem vom Erklärenden gemeinten Sinn verstanden hat. Hat etwa der Erklärende einen bestimmten, eigentümlichen Sprachgebrauch, der vom allgemeinen Sprachgebrauch abweicht, und ist dem Empfänger dies bekannt, so kann sich der Empfänger nicht auf den allgemeinen Sprachgebrauch berufen. Wenn z.B. der A seinem Bruder B seine "Bibliothek" verkauft und B bekannt ist, dass A seinen Weinkeller immer als Bibliothek zu bezeichnen pflegt, dann kann sich B später nicht darauf berufen, den gesamten Bücherbestand des A gekauft zu haben.

Eng verwandt mit dieser Fallgestaltung ist der berühmte "Haakjöringsköd - Fall" (RGZ 99, 147):

K wollte von V eine bestimmte Schiffsladung Walfischfleisch kaufen. Sie bezeichneten den Kaufgegenstand mit "Haakjöringsköd", da sie beide davon ausgingen, dies sei der norwegische Ausdruck für Walfischfleisch. Tatsächlich bedeutet Haakjöringsköd in norwegischer Sprache "Haifischfleisch". Ist zwischen ihnen ein Kaufvertrag über eine Schiffsladung Walfischfleisch zu Stande gekommen?

V hat den wahren Willen des K erkannt und muss daher gemäß § 133 BGB auch den Begriff "Haakjöringsköd" in der von K gewollten Bedeutung gegen sich gelten lassen. Der Unterschied zu der bereits erörterten Fallgestaltung des eigentümlichen Sprachgebrauchs des Erklärenden liegt hier lediglich darin, dass auch V als Erklärungsempfänger dem Begriff "Haakjöringsköd" eine vom allgemeinen Sprachgebrauch abweichende Bedeutung beilegt. In dieser Konstellation, in der beide Parteien übereinstimmend dasselbe wollen und verstehen, muss erst recht das vom Erklärenden Gewollte gelten.

Wollte man stattdessen in dem vorliegenden Fall alleine darauf abstellen, wie die Erklärungen objektiv zu verstehen waren, so müsste man annehmen, V und K hätten sich über den Kauf einer Schiffsladung Haifischfleisch geeinigt. Ein solches Ergebnis wäre jedoch im Hinblick auf den Grundsatz der Privatautonomie unerträglich, würde es doch bedeuten, den Parteien einen von ihnen nicht gewollten Vertrag "aufzuzwingen".

Daher ist allgemein anerkannt, dass bei (bewussten oder unbewussten) Falschbezeichnungen in empfangsbedürftigen Willenserklärungen, die die Parteien übereinstimmend richtig verstanden haben, immer nur die von den Parteien übereinstimmend gemeinte Bedeutung ausschlaggebend ist. Dieses Ergebnis war schon im gemeinen Recht anerkannt und wird bis heute mit dem Satz: "falsa demonstratio non nocet" schlagwortartig umschrieben.

Dem legitimen Interesse des Erklärungsempfängers, dass seine Verständnismöglichkeiten bei der Auslegung berücksichtigt werden, hat das BGB mit der Vorschrift des § 157 Rechnung getragen, nach der Verträge so auszulegen sind, wie Treu und Glauben und die Verkehrssitte es erfordern. Diese Vorschrift passt ihrem Wortlaut nach zwar eigentlich nur auf Verträge und nicht auf einzelne Willenserklärungen. Dennoch wird die Vorschrift heute allgemein auf die Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen angewandt, unabhängig davon, ob diese Willenserklärungen Vertragsbestandteile sind oder nicht. Danach kommt es also bei der Auslegung nicht nur auf den wahren Willen des Erklärenden, sondern darauf an, wie dieser Wille vom Empfänger nach Treu und Glauben und der Verkehrssitte aufgefasst werden musste. Insgesamt stellt das BGB bei der Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen gemäß §§ 133, 157 BGB somit weder einseitig darauf ab, was der Erklärende wirklich gewollt hat, noch darauf, was der Empfänger tatsächlich verstanden hat, sondern vielmehr darauf, wie der Empfänger die Erklärung nach Treu und Glauben und der Verkehrssitte hätte verstehen müssen. Man bezeichnet diese Methode als "Auslegung nach dem Empfängerhorizont auf objektiver Grundlage" (normative Auslegung).

Demgegenüber sind nichtempfangsbedürftige Willenserklärungen alleine nach § 133 BGB auszulegen, ohne dass es auf den Empfängerhorizont ankäme. Setzt dem gemäß der Erblasser E "Mutter" zur Alleinerbin ein und lässt sich eindeutig nachweisen, dass E mit Mutter seine Ehefrau gemeint hat, so ist seine Ehefrau Alleinerbin.

Gegenstand der Auslegung ist nicht nur der Inhalt von Willenserklärungen, sondern auch die vorrangige Frage, ob eine Erklärung überhaupt eine Willenserklärung darstellt. Dabei ist bei empfangsbedürftigen Willenserklärungen wiederum nach der "Auslegung nach dem Empfängerhorizont auf objektiver Grundlage" vorzugehen. Meist wird es in diesen Fällen darum gehen, Erklärungen im außerrechtlich-zwischenmenschlichen Bereich von rechtsgeschäftlichen Erklärungen mit Rechtsbindungswillen abzugrenzen. Bei dieser Abgrenzung geht es sehr oft um die Auslegung eines bestimmten Verhaltens, bei dem sich die Beteiligten in dem jeweiligen Moment überhaupt keine Gedanken über seine rechtliche Relevanz gemacht haben. Im Nachhinein werden sie dann nur allzu gerne behaupten, mit oder ohne Rechtsbindungswillen gehandelt zu haben. Daher bedeutet eine Auslegung nach dem Empfängerhorizont hier, dass man untersuchen muss, ob ein objektiver Beobachter aus den Gesamtumständen nach Treu und Glauben und der Verkehrssitte geschlossen hätte, dass sich die Beteiligten rechtlich binden wollten. Dabei kommt es gerade bei den so genannten "Gefälligkeitsverhältnissen" darauf an, ob Umstände vorliegen, die die rechtliche Verbindlichkeit von Absprachen nahe legen. Wichtiges Kriterium ist dabei die Entgeltlichkeit. Haben die Parteien ein Entgelt für eine Leistung vereinbart, so ist immer von einem Rechtsbindungswillen auszugehen. Dagegen sagt die Unentgeltlichkeit alleine noch nichts über das Vorliegen eines Rechtsbindungswillens aus. Bei unentgeltlichen Vereinbarungen kommt es meist entscheidend darauf an, welche rechtlichen und wirtschaftlichen Folgen eine vereinbarte Gefälligkeit für die Beteiligten mit sich bringen kann oder ob im Rahmen der Gefälligkeit wertvolle oder schutzbedürftige Rechtsgüter im Spiel sind. Während das Versprechen, die Blumen im Vorgarten des Nachbarn während dessen urlaubsbedingter Abwesenheit zu gießen, bei "Nichterfüllung" allenfalls dazu führen kann, dass ein geringfügiger wirtschaftlicher Schaden entsteht, was gegen einen Rechtsbindungswillen spricht, liegt bei der Vereinbarung, das Kleinkind des Nachbarn für zwei Stunden zu beaufsichtigen, wegen der Schutzbedürftigkeit des Kindes und des hohen Wertes des anvertrauten Rechtsgutes eindeutig ein Rechtsbindungswille vor. Daher kann der die Betreuung übernehmende Nachbar es sich während dieser zwei Stunden nicht einfach anders überlegen und das Kind unbeaufsichtigt lassen. Er ist vielmehr zur Aufsicht verpflichtet und kann sich wegen Verletzung vertraglicher Aufsichtspflichten schadensersatzpflichtig machen.

Allerdings kann es auch einmal ausnahmsweise trotz der möglichen wirtschaftlichen Folgen der Nichteinhaltung einer Vereinbarung und trotz der Bedeutung der von der Vereinbarung betroffenen Rechtsgüter am Rechtsbindungswillen fehlen, wenn der Gegenstand der Vereinbarung einer rechtsgeschäftlichen Regelung nicht zugänglich ist. Dies ist etwa dann anzunehmen, wenn sich "Absprachen" auf Bereiche höchstpersönlicher Natur beziehen, deren Privatheit von der Gesellschaft im Allgemeinen akzeptiert wird (wie z.B. Religion, Gewissensentscheidungen, Sexualität etc.). Daher hat der BGH auch die Absprache der Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft, dass die Partnerin "die Pille" einnehmen solle, als rechtlich unverbindliche Vereinbarung im zwischenmenschlichen Bereich eingestuft (BGHZ 97, 372).

Zuletzt geändert: Montag, 1. September 2008, 17:04