Beweislast

Die Beweislast ermöglicht es dem Juristen, auch dort zu entscheiden, wo der Sachverhalt zu rechtlich relevanten Voraussetzungen schweigt - das ist schon im Studium wichtig - oder der Sachverhalt sich trotz aller Aufklärungsbemühungen zu einer rechtlich relevanten Voraussetzung als unaufklärbar erweist - dieses Problem taucht erst später in der gerichtlichen Praxis auf. Für jede rechtlich relevante Voraussetzung gibt es eine Beweislastverteilung, die dem Beweisbelasteten das Risiko des Rechts- und Prozessverlustes zuweist. Im Strafrecht ist die Verteilungsregel relativ einfach. Es gibt eine Unschuldsvermutung, die der Staat widerlegen muss. Die Beweislast für eine Straftat trägt der Staat. Die Beweislastregel lautet: "Im Zweifel für den Angeklagten! In dubio pro reo!"

In anderen Rechtsgebieten und namentlich im Zivilrecht sieht die Sache komplizierter aus. Hier wird die Beweislast für die rechtlich relevanten Voraussetzungen unter den Beteiligten eines Streitverhältnisses verteilt. In dem einen Bereich trägt der Anspruchsteller die Beweislast, in dem anderen Bereich der Anspruchsgegner. Im gerichtlichen Verfahren braucht der Gegner zu einer Tatsachenbehauptung der beweisbelasteten Partei nur Nein zu sagen, um die Behauptung streitig zu stellen und eine Beweisaufnahme erforderlich zu machen.

Beweislast

Das Rechtsinstitut, dem wir Entscheidungsmöglichkeiten bei Informationslosigkeit über rechtlich relevante tatsächliche Voraussetzungen verdanken, ist die Beweislast. Sie heißt uns, etwas als nicht gegeben zu unterstellen, worüber wir keine Informationen haben. Sie wirkt sich zulasten desjenigen aus, auf den die Verteilungsregel die Beweislast fallen lässt. Das Ergebnis der Beweislastverteilung ist die Einteilung der rechtlich relevanten Voraussetzungen in anspruchsbegründende (anspruchserhaltende) und gegenrechtsbegründende (gegenrechtserhaltende) Voraussetzungen.

Machen wir uns das bisher Gesagte an einigen Beispielen klar.

Beispiel 1:

Der Sachverhalt enthält Informationen, die einen Kaufpreisanspruch des Anspruchstellers stützen. Über Zahlungen des Anspruchsgegners auf den Kaufpreisanspruch schweigt er.

Hier bekommt der Anspruchsteller den Anspruch zugesprochen. Die Erfüllung begründet ein Gegenrecht. Schweigt der Sachverhalt zu Erfüllungsvorgängen, so ist von der Nichterfüllung auszugehen.

Aus diesem Beispiel könnte man sich leicht zur Annahme einer Zeitregel verleiten lassen: Umstände, die zeitlich im Zusammenhang mit der Entstehung des Anspruchs stehen, fallen in die Beweislast des Anspruchstellers; Umstände, die einen einmal entstandenen Anspruch später vernichten können, fallen in die Beweislast des Anspruchsgegners.

Diese Regel ist falsch. Das zeigt

Beispiel 2:

Der Sachverhalt enthält Informationen, die einen Kaufpreisanspruch des Anspruchstellers stützen. Über das Alter der Vertragspartner schweigt er.

Auch hier bekommt der Anspruchsteller den Anspruch zugesprochen, obwohl bei Minderjährigkeit eines Vertragspartners der Vertrag nicht wirksam und der Anspruch nicht gegeben wäre und das Alter bei der Entstehung des Anspruchs eine Rolle spielt.

Auch die bei der Entstehung des Anspruchs rechtlich relevanten Voraussetzungen werden demnach offensichtlich in anspruchsbegründende und gegenrechtsbegründende Voraussetzungen aufgeteilt. Die zeitliche Abfolge allein trägt die Differenzierung nicht.

Wonach richtet sich aber dann die Beweislastverteilung?

Eine ungenaue Regel sagt, dass jeder die tatsächlichen Umstände der für ihn günstigen Voraussetzungen zu beweisen habe. Günstig ist für den Anspruchsteller die Nichterfüllung, für den Anspruchsgegner die Erfüllung; für den Anspruchsteller die Volljährigkeit der Vertragspartner, für den Anspruchsgegner die Minderjährigkeit wenigstens eines Vertragspartners. Danach müsste jeder alles beweisen. So formuliert ist die Regel deshalb untauglich.

Schon besser wird es mit einer anderen Regel. Danach muss jeder die tatsächlichen Umstände der Voraussetzungen der Normen beweisen, die er auf den Fall angewendet wissen möchte. Diese Regel funktioniert im Minderjährigenfall ebenso wie im Erfüllungsfall. Der Anspruchsgegner möchte § 362 BGB bzw. §§ 104 ff. BGB angewendet wissen. Also soll er die Nachteile daraus tragen, dass über diese Voraussetzungen der Sachverhalt schweigt.

Auch diese Regel trägt nicht in allen Fällen. Sie muss versagen, wenn die Voraussetzungen innerhalb ein- und desselben Satzes einer Norm in anspruchsbegründende und gegenrechtsbegründende einzuteilen sind. Und diese Fälle gibt es, wie das folgende Beispiel zeigt:

Beispiel 3: [ist dem Schuldrechtsmodernisierungsgesetz zum Opfer fallen]

Ich verwende dieses Beispiel, obwohl es seit dem 1. Januar 2002 nur noch von historischem Wert ist.

Der Sachverhalt enthält Informationen über die Begründung einer Leistungsverpflichtung und über den Untergang des Leistungsgegenstandes. Über die Umstände, unter denen der Leistungsgegenstand untergegangen ist, schweigt er. Der Gläubiger der ursprünglichen Leistungsschuld verlangt Schadensersatz wegen Nichterfüllung.

Der Schadensersatzanspruch war aus § 280 Abs. 1 BGB a.F. begründet, obwohl in dieser Norm das Vertretenmüssen als rechtlich relevanter Umstand erwähnt war. § 282 BGB a.F. legte die Beweislast dem Schuldner der unmöglich gewordenen Leistung auf. Dies bedeutet, dass nicht das Vertretenmüssen des Schuldners eine anspruchsbegründende Voraussetzung für den Schadensersatzanspruch des Gläubigers war, sondern das Nichtvertretenmüssen des Schuldners ein Gegenrecht begründet, das die Entstehung des Schadensersatzanspruchs verhindert. Das Ergebnis hat sich auch im neuen Recht nicht geändert. Nur entnimmt man es jetzt einer einzigen Norm: § 280 Abs. 1 BGB, in der durch die Aufteilung in zwei Sätze die geschilderte Beweislastverteilung angeordnet ist.

Es gibt auch jetzt noch Normen, in denen rechtlich relevante Voraussetzungen eines Satzes in der Beweislast unterschiedlich verteilt sind. Ein Beispiel ist § 111 Satz 2 BGB. Die Vorlage der schriftlichen Einwilligung muss derjenige beweisen, der auf die Wirksamkeit des einseitigen Rechtsgeschäfts setzt, die Zurückweisung derjenige, der auf die Unwirksamkeit des einseitigen Rechtsgeschäfts trotz Bestehen einer Einwilligung baut.

Wenn keine der Regeln in allen Fällen greift, so kann man doch einen für die praktische Entscheidung hilfreichen Regelsatz für die Beweislastverteilung formulieren:

  1. Über die Beweislastverteilung entscheidet der Gesetzgeber. Das geschieht zum Teil ausdrücklich (wie in §§ 363, 345, 476, 619a BGB), zum Teil durch die systematische Anordnung der rechtlich relevanten Voraussetzungen (wie in §§ 280 Abs. 1 und 831 Abs. 1 BGB durch die Trennung von Satz 1 und Satz 2).
  2. Die zeitliche Aufeinanderfolge kann eine Faustregel für die Beweislastverteilung ergeben.
  3. Im Grundsatz hat ein jeder die Voraussetzungen der Normen zu beweisen, die er angewendet wissen möchte.

Regelverfeinerung

Wenn wir das bisher gewonnene Bild verfeinern wollen, können wir die rechtlich für das Zusprechen oder Absprechen eines Anspruchs relevanten Voraussetzungen einteilen in

  • anspruchsbegründende Voraussetzungen
  • anspruchshindernde Voraussetzungen
  • anspruchsvernichtende Voraussetzungen
  • anpruchshemmende Voraussetzungen
  • anspruchserhaltende Voraussetzungen

Anspruchsbegründende Voraussetzungen lassen einen Anspruch entstehen. Anspruchshindernde Voraussetzungen verhindern das Entstehen eines Anspruchs. Anspruchsvernichtende Voraussetzungen vernichten einen einmal entstandenen Anspruch. Anspruchshemmende Voraussetzungen nehmen einem einmal entstandenen Anspruch die Durchsetzbarkeit, ohne ihn zu vernichten. Und anspruchserhaltende Voraussetzungen nehmen den rechtsvernichtenden oder rechtshemmenden Voraussetzungen den zerstörerischen Einfluss auf den entstandenen Anspruch.

Materiellrechtlich begründen die anspruchshindernden und die anspruchsvernichtenden Voraussetzungen Einwendungen, die anspruchshemmenden Voraussetzungen Einreden.

Jetzt fehlt uns noch ein Begriff aus der Grafik über die Beweislast: das Gestaltungsrecht. Seine Besonderheit liegt darin, dass es als solches den einmal entstandenen Anspruch unberührt lässt. Erst die Ausübung des Gestaltungsrechts zerstört das Recht, gegen welches das Gestaltungsrecht als Gegenrecht gerichtet ist. Die Ausübung will man dem Berechtigten überlassen, dem damit die Option eröffnet wird, es bei dem entstandenen Anspruch (Vertrag) zu belassen oder ihn durch Ausübung des Gestaltungsrechts zu zerstören. Ein Beispiel dafür ist das Anfechtungsrecht nach §§ 119, 123 BGB. Wird es nicht ausgeübt, bleibt es bei dem Vertrag; wird es dagegen ausgeübt, wird das Rechtsgeschäft nach § 142 Abs. 1 BGB als von Anfang an nichtig angesehen. Das ausgeübte Gestaltungsrecht begründet eine Einwendung (rechtsvernichtend). Einige Gegenrechte sind damit ausübungsgebunden, andere nicht. Die anderen wirken ipso iure, automatisch oder von selbst. Um auch in dieser Hinsicht das Bild komplett zu machen: die Einwendungen wirken automatisch, die Einreden müssen wie die Gestaltungsrechte ausgeübt werden. Anders als die Gestaltungsrechte führen Einreden allerdings nicht zur Zerstörung des Rechts, sondern nehmen dem Anspruch nur seine Durchsetzbarkeit. Diese Wirkung wird als Anspruchshemmung bezeichnet.

Zuletzt geändert: Freitag, 24. August 2007, 14:55