In unserer Welt erleben wir die verschiedensten Veränderungen: Pflanzen erblühen, Bäume wachsen, Menschen altern, Gletscher schmelzen. Vereinfacht ausgedrückt lassen sich diese Dinge, die derartige Veränderungen durchleben, innerhalb der klassischen Metaphysik als Substanzen begreifen. Substanzen sind isolierte, ontologisch unabhängige Einzeldinge und werden unter anderem als Trägerinnen von Eigenschaften definiert. Dies können entweder wesentliche Eigenschaften sein, die die Substanz nicht verlieren kann, ohne aufzuhören zu existieren oder akzidentelle Eigenschaften, die die Substanz bedenkenlos verlieren kann, ohne dass ihre Existenz gefährdet wäre. Einzig durch das An- und Ablegen von Eigenschaften lassen sich also Veränderungen der Substanzen erklären.
Doch wie überzeugend ist diese eher statische Konzeption von Substanzen als grundlegende ontologische Kategorie? Ist unsere Welt nicht viel dynamischer? Berücksichtigt man neben den mit bloßem Auge erkennbaren Veränderungen auch die Prozesse, die erst unter einem Mikroskop sichtbar werden oder sich gar auf atomarer oder subatomarer Ebene abspielen, so scheint unsere Welt niemals still zu stehen.
Die philosophische Strömung, die derartige stoffliche Veränderungen als grundlegende ontologische Kategorie begreift, ist die Prozessphilosophie. Sie geht davon aus, dass die Natur sich in erster Linie aus Veränderungen und Prozessen zusammensetzt und dass Dinge lediglich eine abgeleitete Abstraktion unserer Erkenntnis sind. Bemerkenswert ist, dass sich Befürworter*innen der Prozessphilosophie sowohl in der griechischen Antike als auch in der Gegenwart finden.
Nach der radikalsten Interpretation der populären Fluss-Fragmente Heraklits – so das Verständnis von Aristoteles und Theophrast – betonen diese die absolute Kontinuität von Veränderung in jedem einzelnen Gegenstand: alles ist in ständigem Fluss. Aristoteles äußert in seiner Physik, von der Rezeption Heraklits merklich beeinflusst, die Vermutung, dass selbst mutmaßlich statische Dinge unsichtbaren oder unbemerkten Veränderungen unterliegen. Auch die Erkenntnisse der modernen empirischen Naturwissenschaften wie der Biologie oder der Quantenphysik lassen sich erstaunlich gut mit einem prozessphilosophischen Ansatz verbinden.
Gründe genug, sich mit der metaphysischen Strömung auseinanderzusetzen. Anhand der Lektüre repräsentativer Schriften von Philosoph*innen wie Heraklit, Aristoteles, Alfred N. Whitehead oder Helen Steward wollen wir uns mit den Kernthesen der Prozessphilosophie vertraut machen. Alle Texte auf deren Basis die Diskussion stattfinden soll, sowie etwas Literatur zur Einstimmung, werden über Moodle zur Verfügung gestellt. Da die moderneren Texte überwiegend in englischer Sprache verfasst wurden, ist die Bereitschaft zur Lektüre englischsprachiger Texte für die Teilnahme am Kurs unerlässlich und wird dementsprechend vorausgesetzt.
Donnerstag
Zeit: 10.00 - 12.00 Uhr
Ort: wird noch bekannt gegeben
- DozentIn: Maximilian Klein