Eine kleine Normenkunde

Sozialnormen und Rechtsnormen

Normen sind:

  • vom Berechtigten aus betrachtet: kontrafaktisch stabilisierte Erwartungen,
  • vom Betroffenen aus betrachtet: sanktionsbeladene Verhaltenserwartungen anderer.

Rechtsnormen stellen Verbote, Gebote und Erlaubnisse für menschliches Verhalten auf. Sie gehören zu den Sozialnormen, schöpfen aber nicht den Bereich der Sozialnormen aus. Das zeigen die Normen der Sitte (Umgangsformen) und die Normen der Moral. Ausgrenzen lassen sich die Rechtsnormen aus dem Bereich der Sozialnormen durch die besondere Art der Sanktion, die für die Durchsetzung der Rechtsnormen sorgt: die Ausübung von Zwang mit Hilfe des staatlichen Gewaltpotentials.

Die deontische Qualität der Normen, ihr Sollenscharakter, führt zu gegenüber rein beschreibenden Sätzen und Aussagen besonderen Begründungsproblemen, die ein zentrales Problem der Rechtsphilosophie darstellen.

Systematik der Rechtsnormen (Grundbegriffe zum Recht)

Allgemeine Norm und Einzelfallregel

Die Einzelfallregel ist regelmäßig das Ergebnis des Entscheidungsverfahrens eines Gerichts oder einer Verwaltungsbehörde. Sie enthält ein Verbot, ein Gebot oder eine Erlaubnis für eine bestimmte Person in einer bestimmten Lage. Die allgemeine Norm enthält dagegen eine Regel für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen und eine unbestimmte Vielzahl von Personen. Sie dient regelmäßig zur Rechtfertigung der in einem bestimmten Verfahren gesetzten Einzelfallregel.

Positives Recht und (überpositives) Naturrecht

Diese Unterscheidung spricht einmal die unterschiedliche Herkunft und zum anderen die unterschiedliche Stellung von Normen in der Normenhierarchie an. Das positive Recht ist das "gesetzte" Recht, das Naturrecht das mit der Ordnung der Natur (Schöpferakt Gottes?) "überkommene" Recht. Dabei soll nach den Naturrechtslehren der Gesetzgeber des positiven Rechts an die Grundsätze des Naturrechts gebunden sein. Naturrechtswidrige Gesetze wären danach nichtig.

Naturrechtsauffassungen erfuhren eine Wiederbelebung im Deutschland der Nachkriegszeit - angesichts der menschenverachtenden Gesetzgebung (Rassengesetze) des Dritten Reichs nur allzu verständlich (Bundesverfassungsgericht zum Verhältnis Naturrecht und Gesetzesrecht - BVerfGE 23, 98). Das rechts- und staatsphilosophische Problem seiner Geltung gegen das positive Recht ist in der geltenden Rechts- und Verfassungsordnung dadurch entschärft, dass viele "Naturrechtssätze" Eingang in die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, das Grundgesetz (GG), gefunden haben und die Gesetzgebung an die Verfassung gebunden ist (Art. 1 Abs. 3 GG). Für die rechtliche Bewältigung der Schüsse an der innerdeutschen Grenze hat die Rechtsprechung aber auch in jüngster Zeit noch einmal auf Naturrechtserwägungen zurückgegriffen. Dies hat das Bundesverfassungsgericht gebilligt.

Positives Recht und Gewohnheitsrecht

Diese Gegenüberstellung spricht unterschiedliche Quellen von Rechtssätzen an. Das positive Recht ist das in einem Rechtsetzungsverfahren gesetzte Recht; das Gewohnheitsrecht ist das in der historischen Entwicklung gewordene Recht, welches auf ständiger Übung und gemeinsamer Rechtsüberzeugung beruht. Gewohnheitsrecht ist das historisch ältere Recht. Es nimmt heute lediglich einen kleinen Teil des geltenden Rechts ein. Die Komplexität, Wandelbarkeit und Vielschichtigkeit des Lebens mit und nach der industriellen Revolution lässt kaum Raum für die Rechtsentstehung durch langjährige, von gemeinsamer Rechtsüberzeugung getragene Übung. Ausgeschlossen ist aber auch heute die Entstehung von Gewohnheitsrecht nicht. Es steht im Range dem gesetzten Recht gleich und kommt namentlich dort in Betracht, wo der Gesetzgeber versagt und richterrechtliche Rechtsbildungen zu Gewohnheitsrecht erstarken. So könnte man heute die entgegen § 253 BGB gewährten Schmerzensgelder für Persönlichkeitsrechtsverletzungen als zu Gewohnheitsrecht erstarkt ansehen und müsste sich dann nicht mehr um die Begründungsdefizite im Gesetzesrecht scheren. Gewohnheitsrechtlich gegründet war die positive Vertragsverletzung, die die Leistungsstörungsregeln des BGB ergänzt. Mit dem Schuldrechtsmodernisierungsgesetz zog die positive Vertragsverletzung als positives Recht in das BGB ein. So kann sich der Status eines Rechtsinstituts ändern: von der Analogie zu Vorschriften des gesetzten Rechts über das Gewohnheitsrecht zum ausdrücklich gesetzten Recht.

Materielles Gesetz und formelles Gesetz

Materielles Gesetz (besser: Gesetz im materiellen Sinne) sind alle (allgemeinen) Rechtsnormen, unabhängig von ihrem Urheber; damit auch Verordnungen aus dem Bereich der Exekutive (vgl. Art. 80 GG). Formelles Gesetz sind allein die Entscheidungen, die dem förmlichen Gesetzgebungsverfahren der Legislative entstammen. Das können auch Entscheidungen sein, denen die Eigenschaft, materielles Gesetz zu sein, nicht zukommt (der im Gesetzgebungsverfahren verabschiedete Haushalt des Staates).

Materielles Recht und formelles Recht

"Recht-haben" und "Recht-bekommen" sind zweierlei. Das "Recht-haben" ist Gegenstand des materiellen Rechts, das "Recht-bekommen" Gegenstand des formellen Rechts. Damit befassen wir uns in der "Rechtsdurchsetzung".

Verfassungsrecht und einfaches Recht

Mit dieser Unterscheidung wird eine Normenhierarchie, ein Normrangverhältnis angesprochen. Die Verfassung geht den einfachen Gesetzen vor. Einfache Gesetze, die gegen die Verfassung verstoßen, sind nichtig. Das darf und muss jeder Richter, der eine Norm einfachen Rechts anwendet, prüfen. Das Recht zur Verwerfung ist allerdings dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten. Der Richter, der ein von ihm anzuwendendes Gesetz für verfassungswidrig hält, muss die Verfassungwidrigkeit in einem Vorlagebeschluss feststellen und die Frage dem Verfassungsgericht zur Entscheidung vorlegen (Art. 100 GG lesen!)

Richterrecht

Das sind die Rechtsregeln, die man zur Begründung einer Entscheidung benötigt, aber im Gesetz nicht findet: Auslegungen des Gesetzes, Ersatzordnungen bei gesetzgeberischem Versagen (Arbeitskampfrecht), Ausfüllungen von Generalklauseln (z.B. Aufstellung von Regeln ordentlichen Verhaltens im Wettbewerb im Rahmen von § 3 UWG). Zu einer problematischen Kategorie wird das Richterrecht, wenn es sich gegen das vom Gesetzgeber gesetzte Recht wendet.

Richterrecht findet sich in gerichtlichen Entscheidungen. Die sind um so mehr wert, je höher die entscheidende Instanz angesiedelt ist.

Die Zivilgerichtsbarkeit gehört zur ordentlichen Gerichtsbarkeit. Die Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit sind die Amtsgerichte, die Landgerichte, die Oberlandesgerichte (in Berlin das Kammergericht) und der Bundesgerichtshof. In Bayern gab es zusätzlich zu den Oberlandesgerichten (und nicht mit diesem zu verwechseln) noch das Bayerische Oberste Landesgericht. Dieses ist im Jahre 2005 abgeschafft worden. Die Gerichte, die erstinstanzlich mit Klagen befasst werden, nennt man Eingangsgerichte. Die anderen Gerichte sind dann Rechtsmittelgerichte, die in Urteilsverfahren mit den Rechtsmitteln der Berufung oder der Revision gegen Urteile der Instanzgerichte angerufen werden können. Dabei kann der Rechtsmittelweg (Instanzenzug) ganz unterschiedlich verlaufen. Im folgenden Bild sind die Wege für das Urteilsverfahren in der streitigen Zivilgerichtsbarkeit festgehalten:

Instanzenzug

Objektives Recht und subjektives Recht

Objektives Recht sind die Rechtsregeln in ihrer Gesamtheit. Subjektive Rechte sind die Befugnisse, die das objektive Recht einem Rechtssubjekt verleiht: z.B. das Eigentumsrecht (§ 903 BGB), aber auch ein bloß relativ wirkendes Forderungsrecht.

Die Normgeltung

Die Frage der Normgeltung stellt sich unterschiedlich, je nachdem, welcher Gattung (Quelle) die in Erwägung gezogene Norm angehört. Geht es um Gesetzesrecht, so muss die Norm formell ordnungsgemäß vom zuständigen Gesetzgeber in Kraft gesetzt worden sein und darf nicht höherrangigem Recht widersprechen. Geht es um Verordnungsrecht, so muss die Norm nicht nur von der zuständigen Stelle herrühren, sondern überdies eine den Anforderungen des Art. 80 GG genügende gesetzliche Grundlage haben. Geht es um eine Norm des Gewohnheitsrechts, so muss die ständige Übung auf der Grundlage einer gemeinsamen Rechtsüberzeugung belegt werden können. Geht es um eine Norm des Richterrechts, müssen die Begründungsmöglichkeiten und die Grenzen richterrechtlicher Rechtsfortbildungen beachtet sein.

Normenkonflikte

Bei der Ermittlung der für eine Falllösung einschlägigen Normen kann es zu Normenkonflikten kommen. Die Normenkonflikte sind dadurch gekennzeichnet, dass von ihren Anwendungsvoraussetzungen her mehrere Normen anwendbar erscheinen, die jedoch zu abweichenden Ergebnissen führen. Für die Bewältigung solcher Normenkonflikte muss es Konkurrenz- und Verdrängungsregeln geben. Die Juristen kennen solche Verdrängungsregeln für die Normenhierarchie, die Zeitordnung und die Spezialitätsordnung. Die entsprechenden Regeln lauten:

  • Eine höherrangige Norm verdrängt solche Normen, die in der Normenhierarchie unter ihr stehen (lex superior derogat legi inferiori).
  • Die zeitlich jüngere Norm geht der zeitlich älteren Norm vor (lex posterior derogat legi priori).
  • Die speziellere Norm verdrängt die allgemeinere Regelung (lex specialis derogat legi generali).

Ein zivilrechtliches Beispiel für die Spezialitätsregel

V besitzt seit Jahren voller Stolz einen, wie er meint, echten Rubens. Als er in Geldnöte kommt, entschließt er sich schweren Herzens, den Rubens zu versilbern. Er verkauft ihn an K für € 100.000. Nun ist K stolzer Besitzer (und Eigentümer) eines vermeintlich echten Rubens. Er wird aus seinen Träumen gerissen, als er zweieinhalb Jahre nach der Übernahme des Prachtstücks von einem Kunstsachverständigen erfahren muss, dass das Bild zwar aus der Rubensschule, nicht aber von des Meisters Hand stammt. Der wirkliche Wert des Bildes beträgt € 20.000.

K möchte von V sein Geld zurück.

Es geht um ein Rückabwicklungsbegehren wegen eines Mangels der verkauften Sache. Der einschlägige kaufrechtliche Behelf ist der Rücktritt (§§ 346 Abs. 1, 434, 437 Nr. 2, 326 Abs. 5 BGB). Der Rücktritt führt in der Tat dazu, dass die ausgetauschten Vertragsleistungen zurückgegeben werden müssen. Allerdings bestimmen §§ 438 Abs. 4, 218 BGB, dass der Rücktritt ausgeschlossen ist, wenn der Anspruch auf Nacherfüllung verjährt ist. Der Anspruch auf Nacherfüllung verjährt bei beweglichen Sachen in zwei Jahren von der Ablieferung an (§ 438 Abs. 1 Nr. 3 BGB). Diese Frist ist hier abgelaufen, so dass K sein Rückzahlungsbegehren nicht wird durchsetzen können, wenn V sich auf die Verjährung beruft.

Eine andere Möglichkeit der Rückabwicklung bietet das Bereicherungsrecht in den §§ 812 ff. BGB. Dann müsste K die € 100.000 "ohne rechtlichen Grund" geleistet haben. K hat aufgrund des Kaufvertrages mit V geleistet. Die Leistung erfolgte also mit Rechtsgrund. Es ist aber zu überlegen, ob K nicht eine Möglichkeit hat, den Kaufvertrag und damit den Rechtsgrund zu zerstören. Eine solche Möglichkeit könnte durch das Anfechtungsrecht eröffnet werden. Eine wirksame Anfechtung führt nach § 142 Abs. 1 BGB dazu, dass der Vertrag als von Anfang an nichtig angesehen wird. Eine wirksame Anfechtung setzt allerdings neben der Anfechtungserklärung (§ 143 Abs. 1 BGB) auch einen Anfechtungsgrund voraus. Als Anfechtungsgrund käme hier der Irrtum über die Echtheit des gekauften Bildes in Betracht (§ 119 Abs. 2 BGB). Tatsächlich liegen die Voraussetzungen des § 119 Abs. 2 BGB vor. K könnte also anfechten, den Rechtsgrund für seine Leistung zerstören und das Geleistete nach § 812 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 BGB zurückverlangen.

Auch hier fragt es sich allerdings, ob nicht die Anfechtung an bestimmte Fristen gebunden ist. Die Antwort gibt § 121 Abs. 1 BGB. Danach muss die Anfechtung ohne schuldhaftes Zögern (unverzüglich) erfolgen, nachdem der Anfechtungsberechtigte von dem Anfechtungsgrunde Kenntnis erlangt hat. Das ist hier der Fall.

Es liegt ein Normenkonflikt vor zwischen der bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung, die durch eine Irrtumsanfechtung ausgelöst wird, und der kaufrechtlichen Rückabwicklung wegen ein- und desselben Mangels der Kaufsache. Das Bereicherungsrecht eröffnet die Rückabwicklung auch noch nach zwei Jahren, während das Kaufrecht die Rückabwicklung auf den Zeitraum von zwei Jahren begrenzt. Dieser Konflikt wird nach den Grundsätzen der Spezialitätsordnung gelöst. Man fragt sich, welches die speziellere Regelung ist, und gibt dieser Regelung den Vorzug vor der anderen. Hier ist die speziellere Regelung die im Kaufrecht enthaltene. Das Irrtumsanfechtungsrecht findet sich im Allgemeinen Teil des BGB. Es gilt mithin für alle Verträge. Das Kaufrecht regelt hingegen nur einen bestimmten Vertragstypus. Die in ihm getroffene Regelung ist speziell auf diesen Vertragstypus ausgerichtet. Nach dem Grundsatz der Spezialitätsordnung geht das Kaufrecht vor. Im Ergebnis bedeutet das, dass man wegen eines Mangels der Kaufsache keine Anfechtungsmöglichkeiten hat, sondern sich mit den kaufrechtlichen Gewährleistungsansprüchen bescheiden muss. Wenn ein Mangel nicht vor Ablauf von zwei Jahren entdeckt wird, sieht sich der Käufer der Verjährungseinrede des Verkäufers ausgesetzt, die sein Rücktrittsrecht ausschließt. Dem kann er nicht dadurch ausweichen, dass er auf die allgemeinere Regelung zurückgreift. Der Weg in die allgemeinere Regelung ist durch den Spezialitätsgrundsatz verschlossen.

Zwingendes Recht und dispositives Recht

Die Unterscheidung ist im Zivilrecht relevant. Dort sind nicht alle Normen zwingend ausgestaltet. Große Teile des Schuldrechts (vgl. das Inhaltsverzeichnis des BGB!) stehen zur Disposition der Vertragsparteien. Sie gelten nur, wenn die Parteien nichts anderes vereinbart haben. Beispiel für eine Haftungsregelung: § 280 BGB gibt bei einer Verletzung der Pflicht aus einem Schuldverhältnis einen Schadensersatzanspruch. Die Allgemeinen Geschäftsbedingungen schließen dieses Recht für fahrlässige Pflichtverletzungen in der Regel aus. Das geht, weil § 280 BGB dispositives Recht enthält (anders etwa Mieterschutzvorschriften des Mietrechts, vgl. zB §§ 559 Abs. 3, 560 Abs. 6 BGB).

Grenzen der Ausschaltung dispositiven Gesetzesrechts markieren die besonderen Vorschriften über die Allgemeinen Geschäftsbedingungen (vgl. zum Haftungsausschluss § 309 Nr. 7 BGB). Daraus erhellt, dass eine individuell ausgehandelte Vertragsordnung im stärkeren Maße vom dispositiven Gesetzesrecht abweichen darf als eine einseitig gesetzte Vertragsordnung. Wir wollen das am Beispiel der Nachbesserungskosten bei einer mangelhaften Kaufsache zeigen.

Nachbesserungskosten bei einer mangelhaften Kaufsache

Nehmen wir an, das neu erworbene Kfz habe einen Getriebeschaden. Die gesetzlichen Gewährleistungsrechte sind Rücktritt, Minderung, Nacherfüllung. Das Getriebe wird im Wege der Nacherfüllung gewechselt. Der Käufer soll jedoch die Arbeitsstunden zahlen, die dafür aufgewendet worden sind. Drei Fallvarianten sind zu unterscheiden. In der ersten schweigt sich das Vertragswerk zu den Arbeitskosten aus, in der zweiten haben Käufer und Verkäufer individuell vereinbart, dass die Arbeitskosten vom Käufer zu tragen sind, in der dritten findet sich eine solche den Käufer belastende Regelung in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen des Verkäufers.

In der Variante 1 lernen wir das dispositive Recht in seiner Lückenfüllungsfunktion kennen. Wenn die Vertragsparteien eine Frage nicht geregelt haben, dann greift die vom Gesetzgeber für angemessen erachtete Ersatz- oder Rahmenordnung ein. Sie ist hier in § 439 Abs. 2 BGB enthalten und bürdet die Arbeitskosten dem Verkäufer auf.

In der Variante 2 haben die Vertragsparteien die Frage zu Lasten des Käufers geregelt. Ob das die in § 439 Abs. 2 BGB enthaltene gegenteilige Regelung verdrängt, hängt vom Charakter des § 439 Abs. 2 BGB als zwingendes oder dispositives Recht ab. Zwei Überlegungen erweisen § 439 Abs. 2 BGB als dispositives Recht. § 444 BGB erlaubt offensichtlich - von einem extremen Grenzfall (Arglist des Verkäufers) abgesehen - den völligen Ausschluss der Gewährleistung. Dann muss es erst recht möglich sein, ein Nacherfüllungsrecht zu belassen und dafür die Arbeitsstunden in Rechnung zu stellen. Denn das ist weniger hart als der völlige Ausschluss der Gewährleistung (argumentum a maiore ad minus). Die zweite Überlegung setzt bei § 309 Nr. 8 b cc BGB an, der Klauseln für unwirksam erklärt, in denen "die Verpflichtung des Verwenders ausgeschlossen oder beschränkt wird, die zum Zwecke der Nacherfüllung erforderlichen Aufwendungen, insbesondere Transport-, Wege-, Arbeits- und Materialkosten, zu tragen". Einer solchen Bestimmung bedürfte es nicht, wenn schon § 439 Abs. 2 BGB zwingendes Recht wäre. Die von § 439 Abs. 2 BGB abweichende, individuell ausgehandelte Vereinbarung über die Arbeitskosten ist deshalb wirksam und verbindlich.

In der Variante 3 bewegen wir uns im Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Die einschlägige Norm haben wir schon kennen gelernt: § 309 Nr. 8 b cc BGB. Aus der ergibt sich, dass durch einseitig gesetzte Vertragsordnungen die Kosten der Nacherfüllung nicht auf den Käufer abgewälzt werden können.

Die Überlegungen zur zwingenden oder nicht zwingenden Natur des § 439 Abs. 2 BGB blieben unvollständig, wenn wir nicht auch einen Blick auf die Bestimmungen des Verbrauchsgüterkaufs in den §§ 474 ff. BGB würfen. Von einem Verbrauchsgüterkauf spricht man, wenn der Verkäufer ein Unternehmer und der Käufer ein Verbraucher ist. In diesem Fall erweist sich die Regelung des § 439 Abs. 2 BGB entgegen unserer bisherigen Analyse als zwingend. Das ergibt sich aus § 475 Abs. 1 BGB.


Modifié le: vendredi 21 novembre 2008, 23:44