Das Zusammenspiel verschiedener Teile des BGB bei der Falllösung
Das Zusammenspiel verschiedener Teile des BGB bei der Falllösung
Das Zusammenspiel verschiedener Teile des BGB für die Entscheidung eines konkreten Falles soll an einem Beispiel gezeigt werden, das einem Buch zur juristischen Methodenlehre entlehnt ist (Zippelius, Juristische Methodenlehre. Eine Einführung, 7. Aufl. 1999, § 6). Der Fall gibt uns zugleich Gelegenheit, uns - abermals - mit einem methodischen Grundgerüst für die Entscheidung von Einzelfällen und einigen Grundlagen der sog. Gutachtentechnik für die Lösung von Zivilrechtsfällen vertraut zu machen. Wir werfen einen Blick in die Werkstatt des juristischen Denkens.
Das methodische Grundgerüst
Es handelt sich um ein Grundgerüst für die Behandlung juristischer Fallfragen. In ihm werden die regelmäßig zu beantwortenden Fragen charakterisiert.
Strukturelle Beziehungen zwischen den Teilen des Gerüsts
Die Entscheidung enthält eine Ja/Nein Antwort (bei teilbaren Anträgen auch teils Ja und teils Nein) auf die Entscheidungsfrage.
Die Entscheidung soll logisch korrekt begründet sein, d.h. aus der Sachverhaltsbeschreibung, den Normen und gegebenenfalls weiteren Prämissen logisch folgen.
Daraus ergibt sich, dass der Einstieg in die rechtliche Prüfung nur über solche Normen erfolgen kann und darf, die von ihrer Rechtsfolge her eine Antwort auf die Entscheidungsfrage ermöglichen.
Hat man solche Normen im Gesetz gefunden (oder auch erst außerhalb des Gesetzes gebildet), so ist zu prüfen, ob der Sachverhalt die Voraussetzungen, die Anwendungsbedingungen der Norm erfüllt. Diesen Vorgang nennen die Juristen Subsumtion.
Die Anwendungsbedingungen können zum Teil nur durch Ergänzungs- und Hilfsnormen identifiziert werden.
Auch nach der Heranziehung von Ergänzungs- und Hilfsnormen bleibt in der Regel eine Kluft zwischen Sachverhaltsbeschreibung und Normen, die durch Interpretationen (Auslegungshypothesen) überbrückt werden muss, um dem Gebot der logisch korrekten Begründung zu genügen. Für die Auslegungshypothesen stehen die Sternchen im Grundgerüst.
Die Gutachtentechnik
Die Gutachtentechnik orientiert sich an dem methodischen Grundgerüst. Sie trägt der Tatsache Rechnung, dass regelmäßig nicht nur eine Norm zur Entscheidung der Fallfrage heranzuziehen ist, sondern deren viele. Dabei versucht sie, den Weg durch das Normendickicht zu steuern und so etwas wie denkökonomische Minima der gutachtlichen Fallentwicklung zu formulieren.
Das Gutachten ist alsdann eine Darstellungsform für die Entwicklung einer Falllösung von der Ausgangsfrage zum Ergebnis. Die im Folgenden beschriebenen "denkökonomischen Minima" sollen einerseits davor bewahren, Zeit, Gedanken und Energie auf überflüssige Erörterungen zu verschwenden, und andererseits dazu beitragen, alle erforderlichen Erörterungen aufzugreifen. Für die Erreichung des letzteren Ziels sind sie allerdings nur notwendige, nicht auch hinreichende Bedingungen.
Erste Aufgabe einer gutachtlichen Fallentwicklung ist die Herausarbeitung der Ausgangsfrage. Im Zivilrecht geht es dabei in der Regel um die Feststellung eines tatsächlichen Begehrens. Die Frage lautet dann: "Wer will was von wem?" Die Antwort darauf ist notwendiger Einleitungssatz einer jeden gutachtlichen Fallentwicklung. Sind alternative Antworten möglich, so ist für jede Alternative eine eigene gutachtliche Entwicklung erforderlich.
Auf die Feststellung des tatsächlichen Begehrens folgt die hypothetische Einführung einer dem tatsächlichen Begehren korrespondierenden Rechtsnorm (Anspruchsgrundlage). Stellt man sich Normen in einer Wenn-dann-Verknüpfung von Tatbestand (= Anspruchsvoraussetzungen) und Rechtsfolge vor, so sind nur jene Normen geeignete Anspruchsnormen, deren Rechtsfolge dem tatsächlichen Begehren entspricht.
Im dritten Schritt ist das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale der hypothetisch eingeführten (und gegebenenfalls als geltend begründeten) Anspruchsnorm zu untersuchen. Dabei geht es um die Frage, ob der Sachverhalt die Merkmale aufweist, welche durch die Bedeutungsregeln (Auslegungshypothesen) ausgezeichnet werden, die den Gehalt des Tatbestands der Anspruchsnorm ausmachen. Die Bedeutungsregeln können durch andere Normen wenigstens teilweise festgelegt sein (so z.B. das "Eigentum" in § 823 Abs. 1 BGB durch die Vorschriften des Sachenrechts). Dann müssen die entsprechenden Normen eingeführt und untersucht werden. Die Bedeutungsregeln können auch Entscheidungsspielräume lassen. Diese sind unter Erörterung der verschiedenen Ausfüllungsmöglichkeiten durch Festsetzung auszufüllen.
Die Untersuchung der Tatbestandsmerkmale der hypothetisch eingeführten Anspruchsnorm kann zu zwei Ergebnissen führen. Entweder wird der Tatbestand verneint. Dann steht fest, dass das Begehren durch die untersuchte Norm jedenfalls nicht begründet werden kann. Man hat dann eine andere (dem tatsächlichen Begehren korrespondierende) Anspruchsnorm ein- und die Untersuchungen zu deren Tatbestand durchzuführen. Oder aber der Tatbestand wird bejaht. Dann stellt sich die Frage nach möglichen Einwänden (Gegenrechten), die den Anspruch trotz Vorliegen des Tatbestands der Anspruchsnorm zu Fall bringen können.
Die mögliche Einwände begründenden Gegenrechtsnormen sind ebenso hypothetisch einzuführen wie die dem Begehren korrespondierenden Anspruchsnormen. Es muss sich um Normen handeln, die von ihrer Rechtsfolgenseite her überhaupt geeignet sind, den bis dahin begründeten Anspruch zu Fall zu bringen. Nur im Hinblick auf sie gebietet die Denkökonomie eine Untersuchung der Tatbestandsmerkmale. Werden die Voraussetzungen der Gegenrechtsnorm bejaht, sind, wenn nicht eine Gegengegenrechtsnorm eingreift, die Erörterungen zur geprüften Anspruchsgrundlage abzuschließen und eine neue Anspruchsgrundlage ist gegebenenfalls einzuführen. Werden die Voraussetzungen aller potentiellen Gegenrechtsnormen verneint, so ist das Begehren nach der untersuchten Anspruchsgrundlage begründet.
Das Fallbeispiel
Wir wollen die abstrakt gehaltenen Erörterungen an einem praktischen Beispiel mit Leben füllen.
Der verkalkte Radfahrer A übersieht den Farbwechsel einer Verkehrsampel und streift dadurch den ordnungsgemäß über die Straße gehenden B, der sich 5 Forellen für das Mittagessen geangelt hat. Die Forellen fallen zu Boden und werden durch nachkommende Fahrzeuge zerquetscht. B verlangt von A € 10,-, um sich dafür 5 Forellen à € 2,- kaufen zu können. A wendet ein, ihn treffe kein Verschulden. Er sei durch die unvorhergesehene Zunahme der Verkehrsdichte und die Häufung der Verkehrszeichen überfordert gewesen und habe trotz Anspannung all seiner Aufmerksamkeit die Verkehrsampel übersehen. Geld müsse er schon gar nicht zahlen, da er selber Angler sei und 5 Forellen als Ersatz fangen könne.
Formulierung der Ausgangsfrage
Nicht: Hat A sich strafbar gemacht? Diese Frage würde in das Strafrecht führen, wo nach Rechtsnormen zu fragen wäre, welche als Rechtsfolge Bestrafung vorsehen.
Nicht: Muss die Ordnungsbehörde die Verkehrsführung ändern, um derartige Unfälle in Zukunft auszuschließen? Diese Frage würde in das Verwaltungsrecht, genauer in das Recht der Gefahrenabwehr, führen.
Hier geht es offenbar um ein von B an A gerichtetes Zahlungsbegehren. Das weist ins Privatrecht, genauer ins Bürgerliche Recht, noch genauer ins Schadensersatzrecht des BGB - in das BGB, weil es um einen Radfahrer geht. Bei einem Autounfall kann es zu zivilrechtlichen Ansprüchen kommen, die außerhalb des BGB geregelt sind (vgl. §§ 7 und 18 StVG - Straßenverkehrsgesetz).
Im konkreten Fall wird eine Leistung verlangt (Schuldverhältnis!). Als Begründungstatbestand scheiden der Vertrag und ein gesetzliches Schuldverhältnis aus Bereicherung oder Geschäftsführung ohne Auftrag aus. Es bleibt allein ein gesetzliches Schuldverhältnis aus unerlaubter Handlung. Es muss auf Geldleistung - hier Schadensersatz - gerichtet sein. Schadensersatzverpflichtungen können in Geldleistungen münden.
§ 823 Abs. 1 BGB ist eine von der Rechtsfolge her geeignete Norm, steht aber allein noch nicht für die fallrelevante Norm. Die einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen und auch die Rechtsfolge werden durch andere Normen des BGB näher bestimmt: Eigentum durch die Regeln des Sachenrechts, Verhalten durch allgemeine auch dem BGB noch vorgelagerte Regeln, Widerrechtlichkeit durch Regeln des Allgemeinen Teils, Verschulden durch Regeln des allgemeinen Schuldrechts und schließlich der Inhalt von Schadensersatzansprüchen durch Regeln ebenfalls des allgemeinen Schuldrechts.
Im Einzelnen:
Hatte B das Eigentum an den Forellen? Im Normalfall dürfen wir denjenigen als Eigentümer einer beweglichen Sache ansehen, der die Sache im Besitz hat (§ 1006 BGB). Die tatsächliche Sachherrschaft begründet eine Vermutung für die rechtliche Sachherrschaft. Die Vermutung überwindet fehlende Informationen über den Erwerbsvorgang. Haben wir allerdings Informationen über den Erwerbsvorgang, dann müssen wir auch fragen, ob dieser Vorgang tatsächlich zu einem Eigentumserwerb geführt hat. Präziser: Wir müssen fragen, ob der Sachverhalt Informationen enthält, die einen Eigentumserwerb des B ausschließen. Denn nur Informationen, die die Vermutungswirkung ausräumen, können das Eigentum des B ausschließen (§ 292 ZPO).
Exkurs über Eigentumserwerbstatbestände für Mobilien (bewegliche Sachen)
Eigentumserwerbstatbestände sind Gegenstand des Sachenrechts. Man unterscheidet derivative von originären Erwerbstatbeständen.
Derivative Erwerbstatbestände sind solche, bei denen der Erwerb vom (Vor)Eigentümer abgeleitet wird, sei es, dass der Voreigentümer selbst das Übertragungsgeschäft vornimmt (§§ 929 bis 931 BGB lesen!), sei es, dass ein Nichtberechtigter das Übertragungsgeschäft vornimmt und (§ 185 BGB lesen!) der Eigentümer darin einwilligt (vorher) oder die Übertragung genehmigt (nachher). Eine letzte Möglichkeit ist, dass der Nichtberechtigte den Gegenstand selbst später erwirbt (etwa durch Erbschaft).
Originäre Erwerbstatbestände sind dadurch gekennzeichnet, dass es entweder keinen Voreigentümer gibt (Aneignungsrechte, §§ 958 ff. BGB) oder dass der Voreigentümer sein Eigentum ohne seinen darauf gerichteten Willen verliert. Das kann geschehen durch staatlichen Hoheitsakt (Zuschlag in der Zwangsversteigerung), durch Verbindung, Vermischung, Verarbeitung (§§ 946 bis 952 BGB), Ersitzung (§§ 937 ff. BGB), Fund (§§ 965 ff. BGB) und Gutglaubenserwerb (§§ 932 bis 935 BGB).
Grafisch lässt sich das so veranschaulichen:
Zurück zum Fall:
Es kann Eigentum des B an den Forellen aufgrund originären Erwerbs über §§ 958, 960, 872 BGB geben. B hätte sich dann die herrenlosen Fische angeeignet. Vielleicht hat er aber auch das Aneignungsrecht eines anderen verletzt. Dann hätte er kein Eigentum erworben (§ 958 Abs. 2 BGB). Vielleicht hat er mit Berechtigung geangelt. Dann hätte er wieder Eigentum erworben. Der Sachverhalt erlaubt keinen sicheren Schluss auf den Nichterwerb durch B. Deshalb steht die Vermutung des § 1006 BGB. Es ist vom Eigentum des B auszugehen.
Die Zerstörung der Fische ist eine Eigentumsverletzung durch ein Verhalten des A. Es findet eine Zurechnung aller Kausalfolgen nach der conditio-sine-qua-non-Formel - ursächlich ist jede Bedingung, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele - zu dem als willensgesteuert qualifizierbaren Überfahren des Rotlichts statt.
Verschulden und Rechtswidrigkeit sind ebenfalls gegeben: Es gibt keinen Rechtfertigungsgrund (etwa Notwehr gemäß § 227 BGB); es wurde gegen Verkehrsregeln verstoßen; es gilt mit der Außerachtlassung der "im Verkehr erforderlichen Sorgfalt" (§ 276 Abs. 2 BGB) ein objektiver Fahrlässigkeitsbegriff im Zivilrecht. A kann sich nicht darauf berufen, dass er persönlich überfordert war, wenn der Durchschnittsradfahrer die Situation gemeistert hätte (anders im Strafrecht).
Rechtsfolge: A ist dem B zum Schadensersatz verpflichtet.
Was das bedeutet, regelt das BGB für alle Normen, in denen als Rechtsfolge die Verpflichtung zum Schadensersatz angeordnet ist, im allgemeinen Schuldrecht, in den §§ 249 bis 253 BGB.
Schadensersatz erfolgt durch Restitution von Güterlagen und Kompensation von Vermögensverlusten.
Schaden ist jede nachteilige Veränderung der Güterlage des Betroffenen (Vergleich der realen, jetzt bestehenden Güterlage mit der hypothetischen Güterlage, die bestünde, wenn das zum Ersatz verpflichtende Ereignis nicht eingetreten wäre, § 249 Abs. 1 BGB) durch
- Güterabfluss oder Verhinderung von Güterzufluss
- Lastenmehrung oder Verhinderung von Lastenminderung.
Geschuldet wird Ausgleich durch RESTITUTION (Herstellung der Güterlage)
- in Natur (§ 249 Abs. 1 BGB) bzw.
- durch Zahlung der Herstellungskosten (§§ 249 Abs. 2 Satz 1, 250 BGB).
Die Restitution wird abgelöst und/oder ergänzt bei
- Unmöglichkeit (§ 251 Abs. 1 BGB)
- Ungenügen (§ 251 Abs. 1 BGB)
- Unzumutbarkeit (§ 251 Abs. 2 BGB).
Dann wird Ausgleich durch KOMPENSATION des Vermögensschadens (§ 253 Abs. 1 BGB) in Geld geschuldet für den
Vermögenswert hat ein Gut, wenn es für das Gut einen Marktpreis gibt!
Übertragen wir das Regelsystem auf den Fall, so müssen wir feststellen, dass das gar nicht so einfach ist. Am Ende kommen wir aber auf jedem der möglichen Wege zu dem von B geltend gemachten Geldanspruch:
Weg 1: Man kann sich auf den Standpunkt stellen, dass Restitution (Reparatur der Forellen) nicht möglich sei. In diesem Fall ist der Vermögensverlust in Geld auszugleichen (§ 251 Abs. 1 BGB). Die Höhe des Verlusts bemisst sich am Marktpreis für Forellen. Der mag € 10,- betragen.
Weg 2: Die Rechtsprechung steht auf dem Standpunkt, dass Restitution nicht nur durch Reparatur, sondern auch durch Lieferung einer anderen Sache möglich sei, wenn es sich um eine vertretbare Sache (§ 91 BGB) handelt. Das ist bei Forellen der Fall. Bei dieser Lage ist die Kompensation ausgeschlossen. Man kommt dennoch zu einem Geldanspruch, weil § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB dem Geschädigten ein Wahlrecht auf Zahlung der Herstellungskosten gibt. Von diesem Wahlrecht macht B Gebrauch.
Alles in allem steht B die von A verlangte Geldsumme zu.
Gegenrechte
Das Fallbeispiel gibt keinen Anlass für die Erörterung von Gegenrechten. Was mit Gegenrechten gemeint ist und warum wir Rechte und Gegenrechte unterscheiden, soll deshalb unabhängig vom Fall in wenigen Zügen umrissen werden.
Stellen wir uns vor, der Fußgänger habe das Malheur kommen sehen und seinen Weg über die Straße dennoch unbeirrt fortgesetzt, weil er sich ja "im Recht" befunden habe. In diesem Fall wäre daran zu denken, dass er selbst auch zu seinem Schaden beigetragen hat und sich deshalb eine Kürzung seines Schadensersatzanspruchs gefallen lassen muss. In der Tat trägt § 254 BGB einem solchen Gedanken Rechnung. Er begründet ein sog. Gegenrecht.
Andere Gegenrechte können sich aus Zeitablauf ergeben: Anspruchsverjährung (§ 214 BGB), Ablauf einer Ausschlussfrist, Anspruchsverwirkung. Wieder andere sind schlicht dadurch begründet, dass man die Forderung durch Erfüllung (§ 362 BGB), Hinterlegung (§ 378 BGB), Aufrechnung (§ 389 BGB), Erlassvertrag (§ 397 BGB) zum Erlöschen bringt.
Die Unterscheidung von Rechten und Gegenrechten gewinnt dann an Bedeutung, wenn in einem Fall einmal die tatsächlichen Voraussetzungen eines vermeintlichen Rechts nicht festgestellt werden können. Dann nämlich stellt sich die Frage, wer die nachteiligen Folgen der Beweislosigkeit zu tragen hat, und das ist bei den Rechten der Anspruchsteller (seine Klage wird abgewiesen) und bei den Gegenrechten der Anspruchsgegner (der gegen ihn gerichteten Klage wird stattgegeben). Man spricht in diesem Zusammenhang auch von der Beweislast.