Handlungsunrecht und Erfolgsunrecht

In unseren bisherigen Erörterungen sind wir wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass ein Fehlverhalten dadurch gekennzeichnet ist, dass ein Verhaltensgebot verletzt wird. Bei den Haftungstatbeständen der §§ 823 Abs. 2 und 826 BGB liegt die Richtigkeit dieser Konzeption auf der Hand. Einmal wird gegen staatlich gesetzte Schutznormen verstoßen; zum anderen werden Gebote des Anstands und der guten Sitten verletzt. Für den Tatbestand des § 823 Abs. 1 BGB ist unsere Annahme aber gar nicht so selbstverständlich. Wir stoßen im Gegenteil auf einen Grundlagenstreit über das zutreffende Unrechtskonzept. Für die einen ist es das Erfolgsunrecht, für die anderen das Verhaltensunrecht. In der Erfolgsunrechtslehre qualifiziert die Tatbestandsmäßigkeit des Eingriffs in ein geschütztes Rechtsgut das Verhalten als rechtswidrig (mit dem Vorbehalt der Rechtfertigungsmöglichkeit durch besondere Rechtfertigungsgründe wie Einwilligung, Notwehr, Notstand und Wahrnehmung berechtigter Interessen). Nach der Verhaltensunrechtslehre muss in jedem Fall die Verletzung eines Verhaltensgebots festgestellt werden. Dabei unterscheidet sich § 823 Abs. 1 BGB von den Tatbeständen des § 823 Abs. 2 BGB und § 826 BGB nur durch die Quelle der Verhaltensgebote. Sie stammen nicht vom staatlichen Gesetzgeber. Sie sind auch nicht dem Sittengesetz entlehnt. Ihre Quelle ist das Richterrecht.

Wir können uns die unterschiedlichen Konzeptionen am Prüfungsaufbau für § 823 Abs. 1 BGB verdeutlichen.

Der traditionelle Prüfungsaufbau

Der traditionelle Prüfungsaufbau unterscheidet im Rahmen des § 823 Abs. 1 BGB die drei Ebenen der Tatbestandsmäßigkeit, der Rechtswidrigkeit und der Schuld.

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Im Rahmen der Tatbestandsmäßigkeit ist eine Rechtsgutsbeeinträchtigung festzustellen und auf ein Verhalten zurückzuführen, das als adäquat kausal für die Rechtsgutsbeeinträchtigung gewertet wird. Das Verhalten wird differenziert nach aktivem Tun und passivem Unterlassen. Die Kausalitätsformel für das aktive Tun ist die conditio sine qua non-Formel. Die Kausalitätsformel für das passive Unterlassen die conditio cum qua non-Formel. Einmal wird also das aktive Tun hinweggedacht und beim anderen Mal ein aktives Tun hinzugedacht. Kausalität ist jeweils gegeben, wenn die Rechtsgutsbeeinträchtigung entfällt. Beim Unterlassen tritt als zusätzliches Moment hinzu, dass man nur solche Verhaltensweisen für eine Haftungsbegründung hinzudenken darf, zu denen der Betreffende verpflichtet gewesen wäre. Hier treten dann die Probleme der Begründung einer sog. Garantenstellung auf. Die bekanntesten Begründungstatbestände sind die Fürsorgepflicht aus enger persönlicher Beziehung (Paradigma: Familienangehörige), die Pflicht aus besonderer beruflicher Verantwortung (Paradigma: der Arzt) und die Abwehrpflicht aus vorangegangenem Gefahr erhöhendem Tun.

Kann die Tatbestandsmäßigkeit festgestellt werden, so indiziert die Tatbestandsmäßigkeit im Rahmen des traditionellen Prüfungsaufbaus zu § 823 Abs. 1 BGB die Rechtswidrigkeit. Diese kann nur durch Rechtfertigungsgründe ausgeschlossen werden.

Wird auch die Rechtswidrigkeit bejaht, kommt es zur Prüfung der Schuld. Schuldfähigkeit des rechtswidrig Handelnden vorausgesetzt, geht es um die beiden Schuldformen des Vorsatzes und der Fahrlässigkeit. Vorsätzlich handelt, wer eine Rechtsgutsverletzung mit Wissen und Wollen herbeiführt. Fahrlässig handelt nach der Definition in § 276 Abs. 2 BGB, "wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt".

Hinter diesem traditionellen Prüfungsaufbau steht als ungenannter paradigmatischer Fall der vorsätzliche Eingriff in ein Rechtsgut eines anderen. A schlägt dem B auf die Nase. C tritt dem F vor das Schienbein. G wirft die Fensterscheibe des H ein. Verändert man das Paradigma, wird das Konzept brüchig. A stellt ein Gewehr her, mit dem B den C auf der Jagd erschießt. Der Autohändler H verkauft und übereignet an F ein Kraftfahrzeug, mit dem bei einem Unfall K auf das Schwerste verletzt wird. M hält sich an alle nur erdenklichen Verkehrsvorschriften und überfährt - für ihn nicht erkennbar - ein Kind. Ist das Verhalten des Herstellers des Gewehres, des Verkäufers des Autos und des sorgfältigen Autofahrers nur deshalb als rechtswidrig zu qualifizieren (Unrechtsindikation), weil ohne das jeweilige Verhalten es nicht zu den beklagenswerten Rechtsgutsverletzungen gekommen wäre? Soll eine Notwehrhandlung (zur Abwehr eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs) gegen die Herstellung von Jagdgewehren und den Verkauf von Autos möglich sein? Soll keine Notwehr- oder Nothilfehandlung gegen den Fahrer des Autos möglich sein, der gerade im Begriff ist, ein Kind zu überrollen?

Die Fragen zur Notwehr bilden ein schönes Beispiel dafür, wie Suggestionen in die Irre führen können. Selbstverständlich soll keine Notwehrhandlung gegen den Hersteller des Jagdgewehrs und den Verkäufer des Autos möglich sein. Ebenso selbstverständlich erscheint es uns, dass es von Rechts wegen erlaubt sein muss, dem Kind gegebenenfalls auch mit einem Angriff auf das heranrollende Auto zu helfen. Das zeigt nur. dass Notwehrargumentationen, wiewohl sie häufig in diesem Zusammenhang angestellt werden, für die Frage nach der richtigen Unrechtskonzeption nichts austragen. Man muss die Frage nach dem haftungsbegründenden Unrecht trennen von den Voraussetzungen einer Notwehr- oder Nothilfehandlung. Notwehr und Nothilfe sind dann gerechtfertigt, wenn der in seinen Rechtsgütern Bedrohte die Rechtsgutsverletzung nicht dulden muss. Die Duldungspflicht hat mit der Frage, ob das abzuwehrende Verhalten seinerseits gegen ein Verhaltensgebot verstößt und deshalb rechtswidrig ist, nichts zu tun.

Löst man sich von den Fesseln der Notwehrproblematik, so kann man insbesondere mit Blick auf entferntere Ursachen die Frage stellen: "Soll ein Verhalten mit dem Unwerturteil der Rechtswidrigkeit belegt werden, das gegen keinerlei Verhaltensgebote verstößt?" Im ersten Zugriff fällt die Antwort verneinend aus. Wie aber müsste dann der Prüfungsaufbau für § 823 Abs. 1 BGB gestaltet werden?

Der moderne Prüfungsaufbau

Der moderne Prüfungsaufbau (vgl. dazu schon die Einführungsbücher von Schwab/Löhnig, Einführung in das Zivilrecht, 18. Aufl. 2010, Rdnrn. 268 ff; Schmidt/Brüggemeier, Zivilrechtlicher Grundkurs, 6. Aufl. 2002, S. 293 ff.) versucht, der Verhaltensunrechtskonzeption dadurch Rechnung zu tragen, dass er zunächst einmal trennt zwischen vorsätzlichen und nichtvorsätzlichen Rechtsgutsbeeinträchtigungen.

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Für die vorsätzlichen Rechtsgutsbeeinträchtigungen bleibt es bei der klassischen Konzeption. Sie indizieren die Rechtswidrigkeit. Die Rechtswidrigkeit kann nur ausgeschlossen werden durch das Vorliegen besonderer Rechtfertigungsgründe.

Im Bereich des nicht vorsätzlich auf die Herbeiführung der Rechtsgutsbeeinträchtigung gerichteten Verhaltens entfällt die Unrechtsindikation. Stattdessen ist positiv festzustellen, gegen welches Verhaltensgebot das an den Tag gelegte Verhalten verstößt. Kann man einen solchen Verstoß festmachen, war dem Betreffenden also ein anderes Verhalten geboten als das, das er an den Tag gelegt hatte, dann stellt sich die Frage, ob bei dem gebotenen Verhalten die Rechtsgutsbeeinträchtigung ausgeblieben wäre. Kann man diese Frage bejahen, muss schließlich noch geprüft werden, ob die Rechtsgutsbeeinträchtigung im Schutzbereich der verletzten Pflicht liegt, ob m.a.W. das Verhaltensgebot gerade zur Vermeidung der beklagten Rechtsgutsverletzung aufgestellt worden ist.

Betrachtet man diesen Prüfungsaufbau im Überblick, so fällt auf, dass im Hinblick auf die Verschuldensvoraussetzungen bei nicht vorsätzlichen Rechtsgutsbeeinträchtigungen nurmehr die Zurechnungsfähigkeit übrig geblieben ist. Die Fahrlässigkeitsprüfung fällt unter den Tisch. Der Grund dafür liegt im objektiven Fahrlässigkeitsmaßstab des Zivilrechts. Man hat, wie § 276 Abs. 2 BGB sagt, für die im Verkehr erforderliche Sorgfalt einzustehen. Dies gilt auch dann, wenn man subjektiv den Anforderungen des Verkehrs nicht gewachsen ist. Die im Zusammenhang mit der Rechtswidrigkeit geprüften Verhaltensgebote decken sich mit den Verkehrs- und Sorgfaltsgeboten in § 276 Abs. 2 BGB. Dies unterscheidet die zivilrechtliche von der strafrechtlichen Rechtswidrigkeits- und Fahrlässigkeitsprüfung. Der subjektive Fahrlässigkeitsbegriff des Strafrechts eröffnet neben den objektiven Pflichtverletzungen ein eigenes Prüfungsfeld. Der objektive Fahrlässigkeitsbegriff des Zivilrechts tut das nicht.

Vermittelnder Lösungsansatz

Das sehen bei weitem nicht alle Rechtslehrer so. Ein vermittelnder Lösungsansatz für den § 823 Abs. 1 BGB (vgl. Deutsch, Der Begriff der Fahrlässigkeit im Zivilrecht, JZ 1987, 505) bleibt bei dem dreigestuften Aufbau (Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit, Schuld) und versucht, die geschilderten Probleme mithilfe der Differenzierung unmittelbarer und mittelbarer Rechtsgutsbeeinträchtigungen in den Griff zu bekommen.

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Liegt eine Rechtsgutsbeeinträchtigung im unmittelbaren Handlungsverlauf eines aktiven Tuns, so spricht man von einer unmittelbaren Rechtsgutsbeeinträchtigung. Der unmittelbaren Rechtsgutsbeeinträchtigung wird die Kraft zur Unrechtsindikation zugesprochen. Die indizierte Rechtswidrigkeit kann nur durch den Nachweis von Rechtfertigungsgründen ausgeschlossen werden. Es schließt sich eine Prüfung der Schuld in den beiden Schuldformen des Vorsatzes und der Fahrlässigkeit an.

Bei Rechtsgutsbeeinträchtigungen, die nicht im unmittelbaren Handlungsverlauf eines aktiven Tuns liegen (Herstellung von Gewehren, Verkauf von Autos) spricht man von nur mittelbaren Rechtsgutsbeeinträchtigungen. Hier soll die Rechtswidrigkeit des Verhaltens eigens festgestellt werden müssen durch die Untersuchung, ob das Verhalten Verkehrspflichten verletzt hat. Man spricht insoweit auch von einer Verletzung der äußeren Sorgfalt. Mit der Feststellung, dass eine Verkehrspflicht, die äußere Sorgfalt, verletzt sei, soll auch noch Raum für die Schuldprüfung verbleiben. Nach der Feststellung der Verletzung der äußeren Sorgfalt müsse man nämlich weiter fragen, ob auch die innere Sorgfalt verletzt worden sei. Hier sei ein mehr täterbezogener Maßstab anzulegen.

Die Differenzierung von äußerer Sorgfalt und innerer Sorgfalt ist eine für das Zivilrecht unbegründete Konzession an die Dreistufigkeit des Prüfungsaufbaus. Da auch die innere Sorgfalt nach § 276 Abs. 2 BGB an objektiven Maßstäben auszurichten ist, könnte für sie nur dann Raum sein, wenn man die Verkehrspflichten der äußeren Sorgfalt weiter fasste als die Verkehrspflichten der inneren Sorgfalt. Dafür gibt es aber keinen vernünftigen Grund, wenn die Verkehrspflichten nicht vorher in abstrakter Form niedergelegt sind, sondern von Fall zu Fall durch richterliche Rechtsetzung begründet werden.

Die Unmittelbar/Mittelbar-Dichotomie begegnet uns im Recht gar nicht so selten. Häufig steht sie für noch nicht vollständig durchdachte Problemlösungen. Vor diesem Hintergrund sollte man ihr, wo immer sie auftritt, mit Skepsis begegnen. Damit ist indessen der Stab für die Verwendung in einem konkreten Bereich noch nicht gebrochen.

Rechtfertigungsgrund des verkehrsrichtigen Verhaltens (Straßenbahnfall)

Die Unterscheidung zwischen Handlungs- und Erfolgsunrecht wird relevant, wenn es um die Gehilfenhaftung nach § 831 Abs. 1 BGB geht (vgl. zum Ganzen Kötz/Wagner, Deliktsrecht, 11. Aufl. 2010, Rdnrn. 285 ff.). Tatbestandsvoraussetzung in § 831 Abs. 1 BGB ist nämlich die widerrechtliche Zufügung eines Schadens durch einen Verrichtungsgehilfen. Jetzt ist entscheidend, was unter widerrechtlich zu verstehen ist: die bloße Rechtsgutsverletzung des Gehilfen nach § 823 Abs. 1 ohne Rechtfertigungsgrund oder darüber hinaus der Verstoß gegen eine Verhaltenspflicht.

Entscheidend wirkt sich diese Frage auch auf die Verteilung der Beweislast aus, wenn nicht aufklärbar ist, ob sich jemand sorgfaltswidrig verhalten hat. Dies kommt in der Praxis sehr häufig vor. Ein Beispiel ist der "Straßenbahnfall", dem wir uns nun zuwenden wollen. Ihn hat der BGH zu Anlass genommen, das Schema des traditionellen Prüfungsaufbaus zu modifizieren.

Was war geschehen?

Der Kläger erlitt am 2. Juni 1951 beim Besteigen einer Straßenbahn einen Unfall, bei dem er den rechten Fuß verlor.

Nach seiner Behauptung war es zu dem Unfall gekommen, weil die Straßenbahn zu früh abgefahren sei. Der Schaffner habe das Abfahrtssignal gegeben und der Fahrer sei abgefahren, obwohl für beide erkennbar gewesen sei, dass er, der Kläger, noch im Begriffe gewesen sei, auf die vordere Plattform zu steigen. Auf das Notsignal des Schaffners habe der Fahrer nicht sofort gehalten.

Er verlangt von der beklagten Straßenbahngesellschaft Schadensersatz sowie Schmerzensgeld.

Die Beklagte machte hingegen geltend, der Kläger sei aus einer Gruppe von Wartenden plötzlich auf den bereits fahrenden Zug gesprungen. Außerdem sei er betrunken gewesen.

Welche der beiden Darstellungen richtig ist, konnte nicht mehr aufgeklärt werden.

Dem Kläger ging es also in erster Linie um eine Haftung der Straßenbahngesellschaft. Auch dies ist ein typisches Beispiel aus der Rechtswirklichkeit. Oft wird nicht der unmittelbare Schädiger in Anspruch genommen, sondern man hält sich über § 831 Abs. 1 BGB an den Geschäftsherrn. Der Grund hierfür liegt auf der Hand: Ein obsiegendes Urteil gegen den Schädiger ist wirtschaftlich oft wertlos, weil dieser nicht das Geld hat, um seiner Verpflichtung zum Schadensersatz nachzukommen. Der Geschäftsherr dagegen ist meistens reich.

Der aufmerksame Leser wird sich vielleicht fragen, wozu dann der ganze Streit dient, denn die Haftung der Straßenbahngesellschaft ergibt sich doch bereits aus § 1 Haftpflichtgesetz (Schönfelder Nr. 33). Dies ist ein Tatbestand der Gefährdungshaftung, bei dem es auf eine Sorgfaltspflichtverletzung ja gerade nicht ankommt. Dies ist vollkommen richtig, doch dem Kläger ging es im Straßenbahnfall auch um ein Schmerzensgeld, und dieses war damals nur über § 847 in Verbindung mit einem Haftungstatbestand des BGB zu erlangen. Zumindest für das Schmerzensgeld kam es also auf die Haftung der Straßenbahngesellschaft aus § 831 Abs. 1 BGB an. Heute kann es ein Schmerzensgeld auch für Gefährdungshaftungen geben (§ 253 BGB).

Wir wollen zunächst, obwohl im Prozess nur die Straßenbahngesellschaft in Anspruch genommen wurde, die Haftung des Fahrers betrachten. Für ihn als den eigentlich Handelnden ist die einschlägige Anspruchsnorm § 823 Abs. 1 BGB. Nach dem traditionellen Prüfungsaufbau ist zunächst eine vom Fahrer verursachte Körperverletzung des Geschädigten erforderlich. Die Körperverletzung indiziert die Rechtswidrigkeit. Die Frage, ob der Fahrer eine Sorgfaltspflicht verletzt hat, stellt sich erst im Rahmen der Prüfung des Verschuldens, wenn untersucht wird, ob der Schädiger sich fahrlässig verhalten hat. Rechtsgutsverletzung und Sorgfaltspflichtverstoß müssen vom Geschädigten im Prozess dargelegt und bewiesen werden. Bleibt etwa die Frage nach dem Sorgfaltspflichtverstoß ungeklärt, verliert der Geschädigte den Prozess.

Man kann sich die Verteilung der Beweislast an einem Schema klar machen, das die Haftungsvoraussetzungen nach Maßgabe der Beweislast beim Geschädigten oder dem Schädiger (hier dem Fahrer) ansiedelt. Für die Haftung des Fahrers sähe dies für die Rechtslage vor BGHZ 24, 21 sehr einfach aus:

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Wendet man dieses Modell auf die Haftung des Geschäftsherrn nach § 831 Abs. 1 BGB an, so fällt das Element des Sorgfaltspflichtverstoßes beim Fahrer weg: § 831 Abs. 1 BGB spricht nur von dem Schaden, "den der andere in Ausführung der Verrichtung einem Dritten widerrechtlich zufügt". Es kommt also nach dem Wortlaut des Gesetzes auf das Verschulden des Fahrers nicht an. Es genügt vielmehr die Rechtsgutsverletzung durch den Verrichtungsgehilfen, die dann die Rechtswidrigkeit indiziert. Für die Verschuldensebene ist nur noch der Sorgfaltspflichtverstoß des Geschäftsherrn bei der Auswahl und Überwachung des Verrichtungsgehilfen entscheidend. Dieses sog. Auswahl- und Überwachungsverschulden wird in § 831 Abs. 1 S. 1 BGB zu Lasten des Geschäftsherrn vermutet. Er muss den Entlastungsbeweis führen (§ 831 Abs. 1 S. 2). § 831 Abs. 1 ist also ein Haftungstatbestand für vermutetes (Auswahl- und Überwachungs-) Verschulden.

Das Beweislastbild sieht für den Geschäftsherrn nach dem traditionellen Aufbau und vor BGHZ 24, 21 also wie folgt aus:

strabauntvor

Bei dieser Zusammenstellung wird nicht auf den ersten Blick erkennbar, warum der Geschäftsherr nicht haftet, wenn er den Beweis für die Verkehrsrichtigkeit des Verhaltens des Gehilfen führen kann. Anscheinend spielt ja die Sorgfaltspflichtverletzung des Gehilfen gar keine Rolle mehr. Bei genauerer Analyse verbirgt sich die Relevanz der Verkehrsrichtigkeit des Gehilfenverhaltens hinter der Kausalität zwischen Überwachungs- und Auswahlpflichtverletzung und Körperverletzung. Wenn nämlich der Gehilfe sich verkehrsrichtig verhalten hat, kann sich das Auswahl- oder Überwachungsverschulden des Geschäftsherrn nicht ausgewirkt haben. Ein sorgfältig ausgewählter oder überwachter Gehilfe hätte sich auch nicht besser als verkehrsrichtig verhalten können.

Das Berufungsgericht ging im Straßenbahnfall noch von dem soeben dargestellten Modell aus:

Das Berufungsgericht hat angenommen, die Beklagte sei nach § 831 BGB für den Schaden des Klägers verantwortlich, weil der Straßenbahnfahrer, vielleicht auch der Schaffner des Motorwagens, die Körperverletzung widerrechtlich verursacht hätten und weil die Beklagte den Entlastungsbeweis des § 831 Abs 1 Satz 2 Fall 1 BGB für ihre Verrichtungsgehilfen nicht angetreten habe. Das Berufungsgericht ist auf Grund der Beweisaufnahme zu dem Ergebnis gekommen, dass der Hergang des Unfalls nicht aufzuklären sei. Es sei möglich, dass die Sachdarstellung des Klägers richtig sei, es sei aber auch möglich, dass sich der Unfall in der von der Beklagten geschilderten Weise abgespielt habe. Angesichts dieses negativen Ergebnisses der Beweisaufnahme kann nach Ansicht des Berufungsgerichts die Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem zu vermutenden Auswahl- und Überwachungsverschulden der Beklagten und dem eingetretenen Schaden nicht ausgeschlossen werden (§ 831 Abs 1 Satz 2 Fall 2 BGB).

Der entscheidende VI. Zivilsenat des BGH wollte jedoch von der Konsequenz, dass schon jede Rechtsgutsverletzung per se als widerrechtlich anzusehen ist, abrücken. Zu diesem Zweck legte er die Sache dem Großen Senat für Zivilsachen vor:

Der vorlegende VI. Zivilsenat trägt Bedenken, der Rechtsansicht des Berufungsgerichts zu folgen. Die Bedenken richten sich vor allem gegen die Auffassung, dass ein Verrichtungsgehilfe im Straßen- oder Eisenbahnverkehr einem anderen im Sinne des § 831 BGB schon dadurch rechtswidrig Schaden zufüge, dass er ihn körperlich verletze. Es wird zur Erwägung gestellt, ob nicht zur Begründung der Widerrechtlichkeit weiter gefordert werden müsse, dass sich der Verrichtungsgehilfe als Teilnehmer am Straßen- oder Eisenbahnverkehr objektiv ordnungswidrig (verkehrswidrig) verhalten habe. Zur Begründung wird auf die Rechtsordnungen über den Verkehrsablauf hingewiesen, die das Verhalten der Verkehrsteilnehmer in immer weiter gehendem Maße im Einzelnen regeln. Es wird ferner auf den Rechtsgedanken der sozialen Adäquanz und Entwicklungen in der modernen Strafrechtslehre Bezug genommen, insbesondere darauf, dass nach dieser Lehre der Fahrlässigkeitsbegriff wesentliche Erfordernisse umfasse, die zum Gebiet der Rechtswidrigkeit und nicht zur Schuld gehören. Werde das Rechtswidrigkeitsurteil bei Verkehrsunfällen nicht schon an den eingetretenen Erfolg, sondern erst an die Übertretung der für das Verhalten im Verkehr geltenden Rechtsregeln geknüpft, so liegt es nach Ansicht des Vorlageberichts nahe, dass die bisherige Auffassung über die Beweislastverteilung bei Anwendung des § 831 BGB nicht mehr aufrecht erhalten werden kann. Insbesondere soll das für Fälle gelten, die die Gestaltung des Vorlagefalls aufweisen und eben dadurch gekennzeichnet sind, dass angesichts der fehlenden Aufklärung des Unfallgeschehens ein objektiv ordnungswidriges Verhalten des Verrichtungsgehilfen nicht festgestellt werden kann.

Der VI. Zivilsenat misst der Klärung dieser Rechtsfragen grundsätzliche Bedeutung zu. Er hat sie daher gemäß § 137 GVG zur Entscheidung des Großen Senats für Zivilsachen gestellt und wie folgt formuliert:

"Fügt ein Verrichtungsgehilfe im Straßen- oder Eisenbahnverkehr einem anderen im Sinne von § 831 Abs 1 BGB schon dadurch widerrechtlich Schaden zu, dass er dessen Leben, Körper, Gesundheit oder Eigentum verletzt? Oder ist zur Begründung der Widerrechtlichkeit weiter Voraussetzung, dass sich der angestellte Verkehrsteilnehmer im Verkehr objektiv ordnungswidrig (verkehrswidrig) verhalten hat? Haftet der Geschäftsherr, der sich für fehlendes Auswahl- oder Überwachungsverschulden nicht entlastet, auch dann gemäß § 831 BGB, wenn nach der Beweisaufnahme die Möglichkeit offen geblieben ist, dass der Verrichtungsgehilfe die objektiven Sorgfaltspflichten eingehalten, insbesondere die Vorschriften des Straßen- oder Bahnverkehrs beobachtet hat?"

Hierüber hatte der Große Senat für Zivilsachen zu entscheiden:

1. Wenn § 831 BGB die Haftung des Geschäftsherrn davon abhängig macht, dass sein Verrichtungsgehilfe einem anderen in Ausführung der Verrichtung widerrechtlich Schaden zugefügt hat, so wird mit diesem Erfordernis an die Gesetzestatbestände des Deliktsrechts angeknüpft, in denen die zum Schadensersatz verpflichtenden unerlaubten Handlungen umschrieben und abgegrenzt werden. Nicht jede Schädigung soll die Haftung auslösen, sondern nur eine solche, die unter einen Haftungstatbestand des Deliktsrechts fällt und damit "unerlaubte Handlung" im Sinne der §§ 823ff BGB ist. Damit ist für das hier in Frage stehende Gebiet der Verkehrsunfälle in erster Linie ein Zurückgreifen auf die Bestimmung des § 823 BGB, insbesondere dessen Absatz 1 erforderlich. Aus den im Straßen- und Eisenbahnverkehr immer wieder vorkommenden Verletzungen des Lebens, des Körpers, der Gesundheit oder des Eigentums werden Schadensersatzansprüche hergeleitet. Nun enthält auch die Bestimmung des § 823 Abs 1 BGB das Erfordernis, dass die Verletzung der aufgezählten Rechtsgüter widerrechtlich sein, also im Widerspruch zur Rechtsordnung stehen muss. Der Gesetzgeber bringt aber dadurch, dass er den Unrechtstatbestand gesetzlich umschreibt, zum Ausdruck, dass er die Verletzung der in § 823 Abs 1 BGB genannten Rechtsgüter in der Regel als widerrechtlich ansieht. Durch den Zusatz "widerrechtlich" weist er jedoch darauf hin, dass nicht notwendig mit der Verletzung schon die Rechtswidrigkeit gegeben ist, sondern dass diese aus besonderen Gründen entfallen kann. Man mag darüber streiten, ob dieser Hinweis erforderlich war. Sicher ist er für die Rechtsanwendung wertvoll, indem er den Richter darauf aufmerksam macht, dass jede tatbestandliche Umschreibung eines Unrechtsverhaltens notwendig unvollkommen und daher die Pflicht zur Prüfung ernst zu nehmen ist, ob nicht das zunächst bei Erfüllung des Tatbestandes nahe gelegte Urteil der Rechtswidrigkeit aus besonderem Grund zurückgenommen werden muss. Darüber, wann ein Rechtfertigungsgrund gegeben ist, hat das Bürgerliche Gesetzbuch keine erschöpfende Regelung getroffen. Die zunächst vorgesehene Bestimmung über die Einwilligung als Rechtfertigungsgrund wurde bei der Gesetzesberatung wieder gestrichen, weil man es der Rechtsanwendung überlassen wollte, insoweit die Grenzen der Rechtfertigung abzustecken (Protokolle Band II S 578). Auch im Übrigen haben Rechtswissenschaft und Rechtsprechung erst nach und nach jene Grundsätze entwickelt, die etwa aus dem Gesichtspunkt der Geschäftsführung ohne Auftrag, der Wahrung berechtigter Interessen oder der Güterabwägung zum Ausschluss der Rechtswidrigkeit herangezogen werden können. Es besteht also kein abgeschlossener gesetzlicher Katalog von Rechtfertigungsgründen im Sinne eines numerus clausus, der der Rechtsentwicklung von vornherein hinzunehmende Grenzen setzen würde. Deshalb ist ein Eingehen auf die Sache erforderlich, wenn der Vorlagebericht des VI. Zivilsenats die Frage zur Erörterung stellt, ob nicht auf dem besonderen Gebiet des Straßen- und Eisenbahnverkehrs ein zwar äußerlich den Tatbestand des § 823 Abs 1 BGB erfüllendes Verhalten dann von dem Urteil der Rechtswidrigkeit freigestellt werden muss, wenn es im Einklang mit der gesetzlichen Ordnung des Straßen- oder Eisenbahnverkehrs gestanden hat.

Den in dieser Richtung angestellten Gedankengängen des Vorlageberichts ist im Grundsatz zuzustimmen. Zwar mag der Gesetzgeber des Bürgerlichen Gesetzbuches nicht erkannt haben, dass hier Gesichtspunkte zur Erörterung stehen, die schon die objektive Rechtswidrigkeit und nicht nur die Schuld im Sinne einer persönlichen Zurechnung angehen. Erst mit der technischen Entwicklung des Verkehrs und der Steigerung der Verkehrsgefahren zeichneten sich jene Probleme ab, die sich aus dem modernen Massenverkehr für die Rechtsordnung ergeben. Der Gesetzgeber wurde vor die Notwendigkeit gestellt, durch immer mehr ins einzelne gehende Rechtsvorschriften (Verkehrs- und Betriebsordnungen) die Pflichten der Verkehrsteilnehmer so zu regeln, dass die Gefahrenmöglichkeiten auf ein möglichst geringes Maß herabgesetzt wurden. Gleichzeitig wurden die Gesetzesbestimmungen über die Gefährdungshaftung ausgebaut, um die aus dem modernen Verkehr zwangsläufig sich ergebenden Gefahren und Risiken in ihrer wirtschaftlichen Auswirkung sozial angemessen zu verteilen. Dabei wurde in zunehmendem Maße erkannt, dass es sich hierbei nicht um eine Haftung für Unrecht handelt, sondern um eine den Beherrscher eines Gefahrenbereichs treffende Pflicht, für gewisse typische Gefährdungsfolgen seines Betriebs einzustehen (Esser JZ 1953, 129). Mit dieser Rechtsentwicklung ist eine Auffassung nicht mehr vereinbar, die im Deliktsrecht auch die unvermeidbaren Schädigungen des Straßen- und Eisenbahnverkehrs als rechtswidrige Körper- oder Eigentumsverletzungen ansieht und nur unter dem Gesichtspunkt fehlender Schuld die Schadenshaftung verneint. Indem die Rechtsordnung den gefahrvollen Verkehr zulässt und den Teilnehmern an diesem Verkehr im Einzelnen vorschreibt, wie sie ihr Verhalten einzurichten haben, spricht sie auch aus, dass sich ein Verhalten unter Beachtung dieser Vorschriften im Rahmen des Rechts hält. Es geht nicht an, ein Verkehrsverhalten, das den Ge- und Verboten der Verkehrsordnung voll Rechnung trägt, trotzdem mit dem negativen Werturteil der Rechtswidrigkeit zu versehen. Hierfür gibt der eingetretene Erfolg keinen ausreichenden Grund her, da das Urteil der Rechtswidrigkeit im Sinne der Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches über unerlaubte Handlungen die zum Erfolg führende Handlung nicht unberücksichtigt lassen kann. Es ist daher der Satz aufzustellen, dass bei verkehrsrichtigem (ordnungsgemäßem) Verhalten eines Teilnehmers am Straßen- oder Eisenbahnverkehr eine rechtswidrige Schädigung nicht vorliegt.

Dahingestellt mag bleiben, ob es sich bei diesem Ergebnis um einen Sonderfall der Anwendung des Rechtsgedankens der sogenannten sozialen Adäquanz handelt. Es braucht angesichts der Beschränkung der Fragestellung auf das Gebiet des Verkehrsrechts ebenfalls nicht darauf eingegangen zu werden, ob dasselbe Ergebnis auch dadurch zu gewinnen ist, dass auf die neuere Auffassung der strafrechtlichen Dogmatik zurückgegriffen wird, die den Fahrlässigkeitsbegriff aufspaltet, indem sie die Prüfung der Einhaltung der objektiv erforderlichen Sorgfalt zur Rechtswidrigkeit rechnet und nur die Frage der Zurechnung des missbilligten Verhaltens an den einzelnen Täter als Schuldprüfung versteht (Welzel, Deutsches Strafrecht, 5. Aufl S 104ff; derselbe, Das neue Bild des Strafrechtssystems, 3. Aufl S 31ff; Henkel, Festschrift für Mezger 1954, 249 (282)). Bedenken müssten jedenfalls angemeldet werden, wenn dieser komplexe Fahrlässigkeitsbegriff der neueren Strafrechtslehre mit der Folgerung in das Zivilrecht übernommen würde, dass auch im Haftungsrecht stets unter dem Gesichtspunkt einer besonderen Schuldprüfung an das Verhalten des Schädigers ein individueller, die besondere Persönlichkeitsartung berücksichtigender Beurteilungsmaßstab anzulegen wäre (vgl Nipperdey, Festschrift für Alex Meyer, 1954, 95 (100); Enneccerus-Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts 1955, § 211 II). Damit wäre zwar äußerlich eine Harmonisierung der rechtlichen Begriffsbildung erreicht, aber den wesensgemäßen Unterscheidungen nicht Rechnung getragen, die sich aus der spezifischen Eigenart und Zwecksetzung zweier verschiedener Rechtsgebiete ergeben. Insbesondere würde diese Auffassung der Vorschrift des § 276 Abs 1 Satz 2 BGB, wie sie in der Rechtsanwendung stets verstanden ist, nicht gerecht (vgl Niese JZ 1956, 457 (465)).

2. Die Vorlagefrage macht nunmehr die Prüfung erforderlich, welche Folgerungen sich aus dem dargelegten Standpunkt für die Beweislastverteilung ergeben. Dabei ist zunächst der Hinweis zu wiederholen, dass der Gesetzgeber durch die Aufstellung einzelner Deliktstatbestände dem Richter die Prüfung erleichtern will, ob eine Unrechtshandlung vorliegt oder nicht. Anders als bei einer deliktischen Generalklausel, die der Wertung des Richters notwendig einen großen Spielraum lassen muss, geben die das haftungsbegründende Unrecht in kasuistischer Art umschreibenden Deliktstatbestände der §§ 823 bis 825 BGB der Rechtsanwendung eine feste Grundlage, indem sie das Rechtswidrigkeitsurteil zunächst nahe legen. So ist auch bei Verletzung der im § 823 Abs 1 BGB besonders genannten Rechtsgüter, die das Gesetz in bevorzugter Weise schützen will, die Heranziehung eines besonderen Rechtfertigungsgrundes erforderlich, wenn dargetan werden soll, dass eine Verletzung ausnahmsweise nicht das Unwerturteil der Rechtswidrigkeit verdient (Motive Band II S 726; RGZ 50, 60 (65); Enneccerus-Lehmann, Recht der Schuldverhältnisse 1954, S 912, 915). Das gilt unabhängig davon, ob die Verletzungshandlung von einem Verletzungsvorsatz getragen war. Dieses im System unserer Deliktsrechtsordnung begründete und in der Rechtsanwendung bewährte Verhältnis von Regel und Ausnahme hat gemäß den anerkannten Grundsätzen des Beweisrechts die Folge, dass dem Verletzer eines geschützten Rechtsguts der Beweis für das Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes obliegt (RG SeuffArch 81, 50; RGZ 159, 235 (240); RG JW 1930, 3400). In dieser Hinsicht kann der Rechtfertigungsgrund des verkehrsrichtigen Verhaltens im Straßen- und Eisenbahnverkehr keine Sonderstellung beanspruchen.

Diese Beweislastverteilung bedeutet bei der Anwendung des § 823 Abs 1 BGB auf Verkehrsunfälle, dass der Schädiger, indem er den Beweis für sein verkehrsrichtiges Verhalten antritt, das Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes dartun kann. Ist der Beweis geführt, wird die Schuldprüfung gegenstandslos, weil es schon an einer rechtswidrigen Schadenszufügung fehlt. Ist dagegen die Frage des verkehrsrichtigen Verhaltens des Schädigers ungeklärt, so ist von einer rechtswidrigen Verletzungshandlung auszugehen. Die Haftungsfrage ist damit noch nicht entschieden. Denn § 823 Abs 1 BGB setzt weiter voraus, dass die Verletzungshandlung (vorsätzlich oder) fahrlässig war. Der Geschädigte muss also beweisen, dass der Schädiger (vorsätzlich oder) iS des § 276 Abs 1 Satz 2 BGB fahrlässig gehandelt, also die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen hat. Auch bei dieser Prüfung wird es natürlich wesentlich darauf ankommen, ob die Verhaltungsvorschriften der Verkehrsordnung eingehalten sind. Dass die nämliche Frage des verkehrsrichtigen Verhaltens auf dem Gebiet der Rechtswidrigkeit und dem Gebiet der Schuld Bedeutung gewinnen kann, ist bedingt durch die Fassung und rechtliche Einordnung des Fahrlässigkeitsbegriffs, wie sie dem Bürgerlichen Gesetzbuch zugrunde liegen. Für die praktische Rechtsanwendung bleibt es bei dem Ergebnis, dass der Geschädigte die vollen Voraussetzungen des auf § 823 Abs 1 BGB gestützten Schadensersatzanspruchs beweisen muss und dass demgemäß - von den Fallgestaltungen des Beweises des ersten Anscheins abgesehen - eine mangelnde Aufklärung des Sachverhalts zu seinen Lasten geht.

Anders ist die Beweislastverteilung bei Anwendung des § 831 BGB. Hier ist vom Gesetzgeber bewusst die Haftung des Geschäftsherrn nur davon abhängig gemacht, dass der Verrichtungsgehilfe rechtswidrig, nicht auch davon, dass er vorsätzlich oder fahrlässig den Schaden zugefügt hat. Es können also, soweit es sich um das Verhalten des Verrichtungsgehilfen handelt, nur die Beweislastgrundsätze zur Anwendung kommen, die die Ebene der Rechtswidrigkeit betreffen. Demgemäß muss der Geschädigte beweisen, dass der Verrichtungsgehilfe eines der im § 823 Abs 1 BGB geschützten Rechtsgüter durch eine adäquat ursächliche Handlung verletzt hat. Dem Geschäftsherrn obliegt dagegen der Beweis, dass das Verhalten des Verrichtungsgehilfen rechtmäßig (verkehrsrichtig) war, weil es der gesetzlichen Ordnung des Straßen- oder Eisenbahnverkehrs entsprach. Zweifel gehen insoweit zu Lasten des Geschäftsherrn. Andererseits fehlt es dann, wenn ein verkehrsrichtiges Verhalten des Verrichtungsgehilfen feststeht, bereits an einer Anspruchsvoraussetzung des § 831 BGB, so dass es nicht mehr eines Eingehens darauf bedarf, ob der Beweis des fehlenden ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem zunächst vermuteten Auswahl- oder Überwachungsverschulden und dem Schadenseintritt geführt werden kann (Entlastungsbeweis 2 des § 831 Abs 1 Satz 2 BGB). Unter dem letzteren Gesichtspunkt hatte das Reichsgericht die Haftung des Geschäftsherrn dann verneint, wenn zur Überzeugung des Richters feststand, dass auch ein sorgfältig ausgewählter und beaufsichtigter Angestellter in der gegebenen Lage nicht anders hätte handeln können (RGZ 135, 149 (155); 159, 312 (315)). Dass die Erbringung des ersten Entlastungsbeweises des § 831 Abs 1 Satz 2 BGB ein Eingehen auf die Frage der rechtswidrigen Schädigung entbehrlich macht, versteht sich von selbst.

Es ist nicht zu verkennen, dass bei Verkehrsunfällen, die in ihrem Ablauf ungeklärt geblieben sind, die dargelegte Beweislastregelung den Geschädigten für den Fall besser stellt, dass der Verrichtungsgehilfe und nicht der Geschäftsherr selbst den Unfall verursacht hat. Im letzteren Falle wird die Haftung des Geschäftsherrn in der Regel ausscheiden, da ein Verschulden nicht festgestellt werden kann, bei Verursachung durch den Verrichtungsgehilfen dagegen haftet der Geschäftsherr, der den Entlastungsbeweis für fehlendes Auswahl- und Überwachungsverschulden nicht führen kann. Doch ist diese Besserstellung vom Gesetzgeber erkennbar gewollt, indem er, soweit das Verhalten des Verrichtungsgehilfen in Betracht kommt, geringere Anspruchsvoraussetzungen aufgestellt hat. Hierin liegt ein gewisser Ausgleich dafür, dass im Übrigen die Rechtslage des von einem Verrichtungsgehilfen Geschädigten infolge der möglichen und meist zum Zuge kommenden Entlastung recht ungünstig ist. Gerade wegen dieses Zusammenhangs geht es nicht an, den für den Geschädigten günstigen Teil der Regelung des Bürgerlichen Gesetzbuches über die deliktische Haftung für Hilfspersonen in der Rechtsanwendung beiseitezuschieben. Berücksichtigt man, dass in dieser Regelung - wenn auch unvollkommen - der Gedanke des Einstehens für ein Betriebsrisiko zum Ausdruck kommt, so ist es auch nicht unangemessen, demjenigen, aus dessen Bereich die Gefährdung hervorgegangen ist, eine Beweisführung über das Zustandekommen der Schädigung zuzumuten, zu der er zwar nicht immer, aber doch in der Regel eher in der Lage sein wird als derjenige, auf den das Ereignis zugekommen ist. Auch soweit es sich um die Beschaffung der "Vorrichtungen und Gerätschaften" handelt, wozu die Verkehrsmittel zu rechnen sind, hat das Gesetz aus dem gleichen Grund dem Geschäftsherrn im Rahmen des § 831 BGB eine gesteigerte Aufklärungs- und Beweispflicht auferlegt. Steht die Würdigung des Verhaltens des Verrichtungsgehilfen zur Erörterung, muss zudem der Gesichtspunkt Beachtung finden, dass der Verrichtungsgehilfe - das ist der Sinn der Beweisumkehrung so lange als für seine Aufgabe ungeeignet anzusehen ist, bis der Geschäftsherr die Beachtung der im § 831 Abs 1 Satz 2 BGB näher umschriebenen Sorgfalt dargetan hat.

Der BGH führte also in BGHZ 24, 21 einen Rechtfertigungsgrund des verkehrsrichtigen Verhaltens ein. Damit war entschieden, dass nicht schon die bloße Rechtsgutsverletzung zur Rechtswidrigkeit des Verhaltens führt, sondern bei verkehrsrichtigem Verhalten des Schädigers die Rechtswidrigkeit entfällt. Durch die dogmatische Einordnung als Rechtfertigungsgrund konnte jedoch die alte Beweislastverteilung aufrecht erhalten werden:

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Das Ergebnis mag auf den ersten Blick überraschend erscheinen. Obwohl das verkehrsrichtige Verhalten auf der Seite des Fahrers liegt, wird nicht er durch die Nichtaufklärbarkeit belastet, sondern der Geschädigte. Das liegt allein daran, dass in der traditionellen Unrechtskonzeption wie in der Konzeption des vermittelnden Lösungsansatzes für unmittelbare Rechtsgutsbeeinträchtigungen das verkehrsrichtige Verhalten sowohl bei der Rechtswidrigkeit wie bei der Schuld eine Rolle spielt. Im Rahmen der Rechtswidrigkeit belastet die Nichtaufklärbarkeit des verkehrsrichtigen Verhaltens den Fahrer. Im Rahmen der Schuld, des nach § 276 Abs. 2 erforderlichen Sorgfaltspflichtverstoßes, belastet sie dagegen den Geschädigten. Im Ergebnis nützt es dem Geschädigten deshalb nichts, dass das Verhalten des Fahrers aus Beweislastgründen als rechtswidrig qualifiziert wird.

Die Beweislastverteilung bei der Haftung des Geschäftsherrn stellt sich nach dem traditionellen Prüfungsaufbau und der Modifikation durch BGHZ 24, 21 wie folgt dar:

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Wie sieht die Beweislastverteilung bei der modernen Lösung aus?

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Da zeigt sich nun ein Unterschied, wie er schärfer nicht sein kann. Nach der traditionellen und der vermittelnden Lösung gewinnt der Geschädigte den Prozess gegen den Geschäftsherrn, nach der modernen Lösung müsste er ihn verlieren, wenn die Frage nach dem verkehrsrichtigen Verhalten unbeantwortet bleibt.

Ob man dem Geschäftsherrn oder dem Schädiger die Beweislast für das verkehrswidrige Verhalten des Schädigers aufbürden soll, ist eine umstrittene Frage. Der BGH hat sich mit seiner Konstruktion für eine Privilegierung des Geschädigten bei Inanspruchnahme des Geschäftsherrn entschieden (Kötz/Wagner, Deliktsrecht, 11. Aufl. 2010, Rdnr. 290): Wird beispielsweise ein Fußgänger durch den Lieferwagen einer Apotheke verletzt und bleibt ungeklärt, ob der Fahrer sich verkehrsrichtig verhalten hat, so haftet der Inhaber der Apotheke dem Geschädigten nicht, wenn er selbst am Steuer saß. Die Klage des Fußgängers hätte dagegen Erfolg, wenn ein Gehilfe des Apothekers der Fahrer war. Kötz/Wagner halten dies für eine ungerechtfertigte Begünstigung des Geschädigten, für die kein Anlass bestehe. Die Beweislastumkehr in § 831 Abs. 1 BGB dürfe nur so weit gehen, wie die internen Verhältnisse des Geschäftsbetriebes, in die der Geschädigte regelmäßig keinen Einblick hat, betroffen sind. Hierzu gehören zwar Auswahl und Überwachung des Gehilfen, nicht aber die Frage seines verkehrsrichtigen Verhaltens.

Schließt man sich der Ansicht von Kötz/Wagner an, so bietet der moderne Prüfungsaufbau ein geschlossenes Bild, ohne dass es der umständlichen Konstruktion des verkehrsrichtigen Verhaltens als Rechtfertigungsgrund bedarf.

Wünscht man hingegen im Rahmen der modernen Lösung die Beweislast für das verkehrsrichtige Verhalten des Gehilfen beim Geschäftsherrn, muss man zu einer Korrektur des § 831 Abs. 1 BGB greifen und auf die Voraussetzung der Rechtswidrigkeit der durch den Gehilfen erfolgten Schädigung verzichten. Dann ergäbe sich die folgende Beweislastverteilung:

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Wie schon beim ursprünglichen traditionellen Bild taucht jetzt das verkehrsrichtige Verhalten des Gehilfen in der Übersicht nicht mehr auf. Gleichwohl steckt in der Kausalität zwischen Pflichtverletzung des Geschäftsherrn bei Auswahl und Überwachung des Gehilfen das gesuchte Kriterium: Kann der Geschäftsherr beweisen, dass der Gehilfe sich verkehrsrichtig verhalten hat, fehlt es an der Kausalität zwischen dem vermuteten Auswahlverschulden und der Körperverletzung. Auch ein pflichtgemäß ausgewählter und überwachter Gehilfe konnte sich nicht anders als verkehrsrichtig verhalten.

Zuletzt geändert: Mittwoch, 1. Juni 2011, 11:41