Das Verborgene und Geheimnisvolle übt seit jeher eine Faszination auf den Menschen aus, bildet dementsprechend auch ein beliebtes Sujet literarischer Texte. So beschreibt und bedichtet die Literatur Heimlichkeiten auf vielfältige Weise. Sie reproduziert, aber vor allem auch kritisiert gesellschaftliche Konventionen, indem sie Tabubrüche und Normverstöße zum Inhalt der Heimlichkeiten macht: Im bürgerlichen Trauerspiel verheimlicht eine junge Frau ihre Schwangerschaft und wird zur Kindermörderin; die Erzählung handelt von Briefgeheimnissen im Eifersuchts- und Ehebruchsdiskurs; die Komödie von einem Richter, der Urteil fällt über eine Tat, die er insgeheim selbst begangen hat. Aber das Verborgene kann nicht nur Gegenstand literarischer Texte, sondern auch Teil des Ambivalenz generierenden Erzählverfahrens sein. Dabei werden Vergewaltigungen als verdeckte Handlungen inszeniert, Sexualität durch rhetorische Mittel sprachlich verhüllt, narrative Verrätselungen vorgenommen und Leerstellen gelassen: So findet die Vergewaltigung Im bürgerlichen Trauerspiel in der Kammer und sexuelle Tätigkeiten im Dunklen statt während sexuelle Anspielungen durch Aposiopesen - den Abbruch des Satzes - verschleiert werden; in der Novelle gibt es neben unzähligen mystischen Elementen eine dreistufige Erzählstruktur mit Erzählern, die sich widersprechen und der monologische Briefroman fokussiert die Perspektive des Protagonisten, wodurch die Gefühlswelt der Geliebten eine Leerstelle bildet.
Das Seminar behandelt nicht nur eine Reihe solcher einschlägigen Texte von kanonisierten Autor:innen wie z.B. Johann Wolfgang von Goethe, Heinrich Leopold Wagner, Heinrich von Kleist, Theodor Storm, Annette von Droste-Hülshoff und Franz Kafka, sondern auch verschiedenste Gattungen - die teilweise prädestiniert sind für die Thematisierung des Verborgenen - vom (analytischen) Drama über die Novelle bis hin zur Erzählung in einer zeitlichen Bandbreite vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart.
Folgende Texte sind vor Seminarbeginn anzuschaffen und vorzubereiten:
Goethe: Die Leiden des jungen Werthers (Reclam)
Wagner: Die Kindermörderin (Reclam)
Kleist: Der zerbrochene Krug (Reclam)
Droste-Hülshoff: Die Judenbuche (Reclam)
Storm: Der Schimmelreiter (Reclam)
Kafka: Das Urteil (Reclam)
Weitere Texte & Materialien werden in Moodle bereitgestellt.
- DozentIn: Antonia Habermann